Friedhof der Kuscheltiere

Der Choreograf Marco Santi verabschiedet sich mit einem „Dilemma“ von Stuttgart nach Osnabrück

Stuttgart, 28/05/2005

Er war nicht der typische kleine Tänzer, nicht das Springteufelchen oder der muntere Virtuose - der Italiener Marco Santi tanzte immer etwas sensibler als seine Kollegen im Stuttgarter Ballett, ihn umgab eine melancholische, fast zerbrechliche Aura. 1992 hat er nach seinem nur ein einziges Mal aufgeführten Skandalstück „Valium“ die Stuttgarter Kompanie verlassen, um fortan nur noch als Choreograf zu arbeiten. Drei Jahre später gründete er zusammen mit Christian Spuck das Marco Santi Danse Ensemble, das sich, rein finanziell gesehen, mehr schlecht als recht in Stuttgart über Wasser hielt. Mit ihrer Fallsucht, dem wilden Zu-Boden-Werfen hatten Santis Choreografien stets eine ganz eigene Prägung. Jetzt verlässt Santi Stuttgart und geht zu Beginn der nächsten Spielzeit nach Osnabrück, wo er als Direktor des Tanztheaters an den Städtischen Bühnen endlich einmal Planungssicherheit haben wird und nicht ständig dem Geld für seine Projekte hinterherlaufen muss. Das zehnjährige Bestehen seines (bereits mehrfach aufgelösten) Danse Ensembles und den Abschied von zwanzig Jahren Stuttgart feiert der Italiener mit „Dilemma“, einer Tanz-Installation zum Thema „Leben schaffen und Leben verweigern“ im Theater Rampe in Stuttgart.

Der einstündige Abend bringt deutlich mehr Installation als Tanz. Als erste der drei Stationen betritt man ein langes, helles Zelt, das allein von strömender Luft aufrecht erhalten wird. Auf seine zart wogenden Wände werden unablässig Bilder projiziert - Motive von Geburten und Bevölkerungsexplosion, von Madonnen und Rabeneltern, vor allem aber von Kindern: hungernden und satten, armen und reichen, echten und künstlichen.

Die Flut von Assoziationen stimmt auf das Thema des Abends ein, auf das titelgebende Dilemma zwischen Kinder-Kriegen und -Nicht-Kriegen, das die Schauspielerin Berit Fromme und die Tänzerin Nina Kurzeja im nächsten Raum durchspielen. Zwischen aufgehängten Kleidern und Schuhen, einer weiteren luftgefüllten Stoffblase, Watte- und Windelhaufen werden sie auf Podesten herumgefahren, häufen große Steine auf Bauch und Rücken, singen einem nie-geborenen Kind traurige Lieder, falten Windeln, bauen Nester aus Watte und testen Namen fürs kommende Baby durch. Dabei steigern sie sich langsam von Slow-Motion-Bewegungen in den großen Ich-krieg-ein-Kind-Rausch. Der Weg hinaus führt über die dritte Station, den Friedhof der Kuscheltiere - man trampelt über Myriaden von kleinen, bunten Teddybären und Glücksbringern hinweg, als wären es die Reste eines Boygroup-Konzertes.

Nahtlos und dramaturgisch sinnfällig greifen unter Santis Regie die Beiträge aller beteiligten Künstler ineinander: die luftigen Raumgebilde von Frank Fierke, die unendlich variablen Projektionen von Michi Meier, die Musikcollage von Roderik Vanderstraeten, die Ausstattung von Santi und Manuela Geisler, das Licht von Ingo Jooß. Im Grunde überzeugt die Inszenierung mehr als der Inhalt - man fragt sich den ganzen Abend, wie der bisher eher introvertierte Marco Santi plötzlich auf so ein globales, ja gesellschaftspolitisches Thema kommt. Eigentlich ist es die Art von Kunstwerk, die entsteht, wenn ein Künstler die Rebellenjahre hinter sich hat, eine Familie gründet und plötzlich mit Kindern konfrontiert wird. Mit Santis alten Choreografien hat das Stück kaum zu tun; Osnabrück jedenfalls darf gespannt sein auf einen multimedialen Theaterschöpfer.
 

Links: Theater Rampe Produktionszentrum für Tanz und Performance Stuttgart

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