Arg klassisch geraten
„Junge Choreografen“ beim Karlsruher Ballett
Endlich! Nach Jahren, ja mehr als einem Jahrzehnt künstlerischen Leerlaufs, kaschiert durch opulente Ausstattungen beziehungsweise öde Routine, scheint das Karlsruher Ballett wieder Tritt gefasst zu haben. Der neue Mann heißt Pierre Wyss, ist Schweizer vom Jahrgang 1957, hat sein tänzerisches Handwerk beim Stuttgarter Ballett gelernt, bestens renommiert als Ballettchef in Braunschweig von 1993 bis zur laufenden Spielzeit.
Pünktlich zum Stuttgarter Jubiläum hat er seine erste Karlsruher Uraufführung herausgebracht – und man kann darin fast so etwas wie eine artige Verneigung vor dem Geiste John Crankos sehen: „Zirkus Fellini“, ein abendfüllendes Tanzstück nach Motiven aus Filmen von Federico Fellini, mit Musik – wie denn auch nicht – von Nino Rota. Es wurde ein rauschender Erfolg – mit Rollen für nicht weniger als 28 namentlich aufgelistete Tänzer, Sänger und Schauspieler – als Gaukler, Artisten, Komödianten, leicht angeschrägte Überlebenskünstler und Tagträumer, das, was man früher fahrendes Volk nannte, kostümiert mit allem gebührenden zirzensischen Flitter von Johannes Cohen, der auch die Bühne entworfen hat: eine weite Landschaft mit flachem Horizont und Videoprojektionen von Menschengesichtern, Phantombildern der Spezies Homo Erectus, einem über die Szene ratternden Eisenbahnzug und mit viel Getöse eines sich aus dem Schnürboden absenkenden Flugzeugs.
An Cranko erinnert nicht zuletzt Wyssens zärtliche Liebe für die Underdogs, die im Leben zu kurz Gekommenen, die dafür mit einem Übermaß an Fantasie begabt sind – wie bei Fellini. Nicht alle sind auf Anhieb mit ihren Film-Rollen zu identifizieren – nicht so leicht jedenfalls wie der breitschultrige Zampanò von Gabriel Sala, die zottelige Gelsomina von Alexandra Kunz oder die ihr „O mio babbino caro“ süß flötende Opernsängerin der Larissa Krochina.
Doch alle tanzen sie sich sympathieheischend ins Herz des Publikums – und so mögen hier stellvertretend für alle Beteiligten wenigstens Die Sehende von Ilaria Masini, der Junge von von Hugo Vieira, der Weiße Clown von Jerôme Delbey und der Transvestit von Tomislav Jelicic genannt sein. Wenn sich dann auch im zweiten Teil in dem Pas de deux ein paar Längen breit machen, so ist doch nicht zu übersehen, dass Wyss ein gediegener choreografischer Handwerker mit ausgesprochenem theatralischem Flair ist, der seine Tänzer mit nahrhaftem Rollenfutter versorgt – und das Publikum mit deftig gewürzter Hausmannskost. Es macht jedenfalls wieder Spaß, in Karlsruhe ins Ballett zu gehen!
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