Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Auch in der zweiten Vorstellung von John Neumeiers neuer „Winterreise“ (daselbst zur B-Premiere aufgewertet) gab es am Schluss lautstarke Proteste. Von den Fans, die sich um ihre sonst gewohnte Opulenz betrogen fühlten? Von der Opposition der Kampnagel-Fundamentalisten? Jedenfalls ist dies Neumeiers bisher radikalste, sich am weitesten von aller herkömmlichen Ballettästhetik entfernende, dem Tanztheater am nächsten stehende Produktion. Wie in Hans Zenders „komponierter Interpretation“ des Schubertschen Liedzyklus für Singstimme und Klavier, so projiziert Neumeier die Texte und die Noten des Originals von 1827 in die Gegenwart der Jahrtausendwende, das heißt den Seelenzustand und die Befindlichkeit der mitteleuropäischen, nachnapoleonischen Gesellschaft in die Bewusstseinssituation unserer Gesellschaft drei Monate nach dem 11. September und reklamiert damit sozusagen Schubert via Zender als unseren Zeitgenossen. Welch ein Instinkt, bedenkt man, dass ein Ballett dieses Zuschnitts jahrelanger Vorausplanung bedarf!
Denn was Neumeier hier zeigt, ist eine Welt, der ihre Mitte abhandengekommen ist, der Boden unter den Füssen entzogen worden ist, wo selbst die Natur (der berühmte Lindenbaum) auf dem Kopf steht – sind Menschen, die ihren Ort verloren haben und auf der Reise in eine ungewissen Zukunft sind. Es ist ein Ballett von einer frösteln machenden Eiseskälte und jeglicher Illusion verlustig gegangenen Trostlosigkeit – eine Reise in die Winternacht unserer Unbehaustheit, die sich so beklemmend ausbreitet, dass es des gründlich verschlissenen Kofferträger-Syndroms wahrlich nicht länger bedurft hätte.
Der Wanderer ist Yukichi Hattori, Hamburgs japanischer Wunder-Boy, ein akrobatisch-artistisches Energiebündel, hilflos im viel zu großen Pullover, mit Brille und Pelzkappe wie ein Polarforscher, und sein Begleiter ist Ivan Urban, zunächst Gentleman im zugeknöpften Paletot und Zylinder, am Ende der langen Reise der Leiermann, der auf seiner Walze das Lied vom Tod dreht. Die Hamburger Tänzer, angeführt von Silvia Azzoni, Joëlle Boulogne, Otto Bubeníček, Laura Cazzaniga, Carsten Jung, Alexandre Riabko, Lloyd Riggins und Sébastien Thill: eine anonyme Masse aus lauter Individualisten. Sie alle Geschöpfe aus Neumeiers Imagination (und wohl alle Alter Egos seiner vielfach gespaltenen Persönlichkeit). Musiziert wird von Mitgliedern des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der Leitung von Lothar Koenigs, der Tenorsolist ist der Amerikaner Scot Weir. Die äußerst knappe Ausstattung stammt von Yannis Kokkos.
„Nijinsky“, „Giselle“ und „Winterreise“ in gerade mal anderthalb Jahren: Wo in aller Welt gibt es sonst noch einen Choreografen, der imstande wäre, drei abendfüllende Produktionen von diesem Anspruch und Format auf die Beine zu stellen?
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