Das Hamburger Ballett mit Neumeiers „Nijinsky“

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Baden-Baden, 18/10/2002

Am ersten von drei Abenden mit John Neumeiers „Nijinsky“ ist das Baden-Badener Festspielhaus gerade mal halb voll. Gewiss, die Stuttgarter Unentwegten sind auch diesmal wieder da. Aber Tänzer des Stuttgarter Balletts und gar die Stuttgarter Direktion habe ich nicht gesichtet. Sie haben sich eine fulminante Vorstellung entgehen lassen – oder haben sie sich vorgenommen, die Samstag- oder Sonntagvorstellung zu besuchen (was allen Ballettfans der näheren oder weiteren Umgebung dringend empfohlen sei). What a pity! Sie hätten nämlich bei dieser Gelegenheit lernen können, was ihnen im Gegensatz zu Hamburg fehlt: die eigene Kultur nämlich!

Über die verfügen die Hamburger dank John Neumeier in beglückendem Maß – und sie ist es, die die Identität der Kompanie stiftet. Wie oberflächlich und sensationsgeil muten doch Stücke wie „Mapplethorpe“ oder „M. –  wie Callas“ an, von den Berliner Kresnikiaden nicht zu reden, im Vergleich zu dem vielschichtigen kulturhistorischen Panorama, das diese „Annäherungen an Nijinsky“ entwirft.

Nach dem architektonischen Kathedralbau der „Matthäus-Passion“, von einem Mies van der Rohe der Choreografie konzipiert, nun also das Trompe l’oeil-Fresko einer Nijinsky-Biografie, in der sich Historie, Kunst und Fantasie durchdringen und überlagern, wie von einem Proust oder Joyce erzählt. Das ergibt ein höchst komplexes Gebilde, in dem zurechtzufinden es gewisser Vorkenntnisse bedarf, besonders im zweiten Teil, wenn Realität und Visionen, Erinnerungen und Wahnvorstellungen einander jagen und ineinander übergehen. Welch eine Bilderfülle! Welch ein Breitenspektrum stilistischer Kontraste! Welch eine Vielfalt unterschiedlicher Charaktere! Welch ein Kosmos menschlicher Persönlichkeiten vor dem Hintergrund einer Weltendämmerung!

Nach dem Kollektiv Hamburger Ballett in der „Matthäus-Passion“ hier nun das Hamburger Ballett als Kompanie individueller Temperamente:  Jiří Bubeníček, ein Weltklassetänzer in der die Extreme menschlicher Existenz auslotenden Titelrolle des Gottesnarren, Anna Polikarpova als seine so rührend und doch so hilflos um ihn bemühte Frau, Yohan Stegli als der von Dämonen heimgesuchte und buchstäblich zerrissene Bruder, Ivan Urban als der nicht nur eitle, sondern von der unersättlichen Sehnsucht nach der vollkommenen Schönheit heimgesuchte Diaghilew, dazu Guido Warsany als der junge Massine, Rivale in mehr als einer Beziehung, dann Alexandre Riabko als abgründiger Schatten des Protagonisten und Heather Jurgensen als Inbegriff einer Ballerina, die eine ganze Galerie verschiedenartigster Frauen verkörpert – weiter all die von Nijinsky kreierten Rollen als Harlekin, als Geist der Rose, als Goldener Sklave und als Faun (der ungemein geschmeidige Otto Bubeníček, der als realer Zwillingsbruder des Nijinsky-Tänzerakteurs eine zusätzliche authentische Dimension einbringt) und Lloyd Riggins als der herzzerreißende Petruschka: welch ein Spektrum von scharf profilierten Tänzerpersönlichkeiten vor dem Relief dieses wunderbaren Corps de ballets, dessen Unisono-Attacke und Linienharmonie gerade auch in den großen Ensembles beweisen, welch eine vorzügliche Arbeit in den Hamburger Ballettsälen geleistet wird.

Schon heute freuen wir uns auf die Wiederkehr der Hamburger im nächsten Herbst nach Baden-Baden, wenn die Kompanie drei Wochen lang im Festspielhaus residieren und dort neben den Vorstellungen mit „Gustav Mahlers dritter Sinfonie“ das neue Ballett erarbeiten wird, das John Neumeier zum dreißigjährigen Jubiläum des Hamburger Balletts plant.

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