Giorgio Battistelli: Auf den Marmorklippen

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Mannheim, 19/04/2002

„Musikalische Visionen nach dem Roman von Ernst Jünger“ nennt der italienische Komponist Giorgio Battistelli (geboren 1953) sein am 8. März am Mannheimer Nationaltheater uraufgeführtes Stück „Auf den Marmorklippen“, das an diesem Abend seine sechste, vom Publikum am Schluss lauthals bejubelte Vorstellung erlebt. Es ist keine Oper, sondern ein Produkt des musikalischen Totaltheaters, ein bisschen an Tairows „Entfesseltes Theater“ erinnernd, das in der jungen Sowjetunion Furore machte.

Es gibt keine lineare Erzählung, sondern neun Szenen, in denen sich in anderthalb Stunden der Untergang einer blühenden Kultur und der Aufstieg einer Schreckensherrschaft vollzieht, mit Sprech- und Gesangstexten, vielen chorischen Ensembles, großen Orchesterakkompagnements. Ebenso wichtig ist die ständig in Bewegung befindliche Bühne, sind die Projektionen und Videos und die phantastischen Lebewesen, die die Szene bevölkern, aus deren Untergrund hervorquellen, in den Lüften segeln, die Erde heimsuchen – eine Phantasmagorie daliesker Kreaturen – und aus Dali-Landen kommt auch der Produzent, der für Inszenierung, Bühne und Kostüme verantwortliche Carlos Padrissa mit seinen Mitarbeitern von der katalanischen Truppe La Fura dels Baus (die jüngst in Salzburg mit ihrer Inszenierung von Berlioz‘ „Damnation de Faust“ großes Aufsehen erregte).

Dies ist nicht der Ort, auf den Inhalt, die Musik und die enigmatische Botschaft des Stücks einzugehen, und schon gar nicht auf die nicht zuletzt politisch ambivalente Botschaft Jüngers (dessen dialogloser Roman 1939 erschien). Sondern allein auf den visionären Bilderrausch, der auf das Publikum einstürmt, gemäß der Devise von Padrissa: „Im Raum gibt es keinen absoluten Stillstand. Auch wenn wir stehen bleiben, bewegt die Welt sich weiter, und neben ihr die Planeten und die Sterne. Daher bewegen wir uns sowohl in physischer und wissenschaftlicher Hinsicht als auch im Bereich der Künste und Ideen unablässig.
In der digitalen Oper sind die Schauspieler ständig in Bewegung ... Sie erscheinen als programmierte Roboter. Ihre Gesten sind die von Cyborgs, von Maschinenmenschen, von Zwitterwesen oder Affen, Sie bewegen sich wie normale Menschen, aber unbeholfen, und ihre Choreografie ist ein organisiertes Chaos. Ihr Seelenzustand ist an der Einfachheit und Monotonie ihrer Gesten abzulesen. Ihre Gesichter und Bewegungen sind die von Figuren aus einem Videospiel.“

Es ist tatsächlich das organisierte Chaos. Alles ist ständig in Bewegung, inklusive der Bühne selbst, die permanent rotiert, wenn sie nicht gerade in alle möglichen Winkel gekippt wird. Trotzdem würde ich nicht von Choreografie sprechen, dafür unterläuft dem Produzenten allzu viel Beiläufiges, Banales, Ungeformtes, gibt es zu viel Gehampel und echauffiertes Gewusel. Seine bildlichen Visionen sind wahrlich überwältigend (außer an Dali erinnerten mich seine Kreaturen wiederholt an die Fantasygestalten von Klee, Dubuffet, auch an Bacon und Keith Haring).

Doch es ist ähnlich wie bei Achim Freyer: Seiner offenbar unerschöpflichen bildlichen Fantasie entspricht keine ähnlich vielgestaltige Bewegungsfantasie – es mangelt nicht so sehr an choreografischer Gestaltungskraft als an Bewegungseinfallsfülle. Robert Wilson ist klug genug, sich in solchen Fällen der Mitarbeit von Choreografinnen zu versichern. Für alle Aspekte dieser spektakulären Produktion sind auf dem Besetzungszettel kompetente Spezialisten ausgewiesen – das Wort Choreografie sucht man vergeblich.

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