Goecke geht nach Basel
Marco Goecke folgt dort planmäßig auf Adolphe Binder
Die Sehnsucht nach Normalität ist ein zuverlässiges Korrektiv für Skandale. Als vor einem knappen Jahr der Starchoreograf und damalige Ballettdirektor in Hannover Marco Goecke einer Kritikerin der FAZ Hundekot ins Gesicht schmierte, war der Aufschrei über die Grenzen der Kulturszene hinweg groß. Nach anfänglichen Sanktionen ist es um den Träger des Deutschen Tanzpreises 2022 still geworden. Inzwischen wurde das entsprechende Gerichtsverfahren eingestellt; das Theater Jena hat den Vorfall in einem Theaterstück verarbeitet. Die Tanzcommunity hat sich auf ein neues Normal geeinigt: Goeckes Stücke werden weiterhin gezeigt. Bei der Abstimmung mit Händen und Füßen gibt das Publikum den Arbeiten des ehemaligen Stuttgarter Tänzers und Hauschoreografen nach wie vor genügend Kredit für seine außergewöhnliche, einzigartige Tanzsprache.
Die Rechnung ging auch in Mannheim auf, wo Hausherr Stephan Thoss das Fünfzehn-Minuten-Stück „Woke up Blind“ zum Abschluss des neuen Tanzabends „Identity“ zeigte. Eigentlich war es schon für letztes Frühjahr geplant, aber Thoss fürchtete sicher zu Recht den Schatten des damaligen Skandals. Aktuell neu einstudiert wurde das 2016 für Nederlands Dans Theater kreierte Stück von der dortigen Repetitorin Ralitza Malehounova. Für sie war es ein Wiedersehen mit der Quadratestadt, in der sie zwei Jahre lang im früheren Kevin O’Days Ensemble getanzt hatte. Vielleicht hat ein bisschen heimatliches Gefühl geholfen – jedenfalls überzeugten die hervorragenden Mannheimer Tänzer*innen auch im Goecke-Stil.
Verletzte Riesenvögel
„Woke up Blind“ stammt aus der Zeit des internationalen Goecke-Hypes; die Liste der Choreografien aus diesen Jahren (allein für 2015 und 2016 verzeichnet die Werkliste 22 Titel) lässt einen beim Lesen schon schwindlig werden. Goecke hat diesem nach eigenen Worten sehr schnell entstandenen Stück zwei stimmungsmäßig gegensätzliche Songs des Ausnahmesängers Jeff Buckley zugrunde gelegt. Es geht um junge Liebe und deren extreme Gefühlswelt, die Goecke mit seinen typischen Bewegungs-Ingredienzien auf die Bühne zaubert. Die zwei Tänzerinnen und fünf Tänzer – erst in schwarzen, dann in roten weiten Hosen mit blanken Oberkörpern schwingen die Arme wie verletzte Riesenvögel, die nicht abheben können. Sie zittern und zappeln so schnell, dass sich die Bewegungslinien im Auge des Betrachters öfters verschwimmen. Goecke hat ganz eigene Bilder für hochnervöse Zustände und innere Zerrissenheit gefunden – und gehört wie ganz wenige Vertreter der choreografischen Zunft zu den Schöpfern eines unverwechselbaren Stils.
Geisterhafte Zugfahrt
Um eigene künstlerische Handschriften geht es im neuen Ballettabend „Identity“, für den der Tanzsparte ausnahmsweise das Alte Kino Franklin (reguläre Ausweich-Spielstätte des Mannheimer Schauspiels) zur Verfügung steht. Die weitaus professionelleren Bedingungen als im kleinen eigenen Tanzhaus kamen auch der niederländischen Nachwuchs-Choreografin Emma Evelein für ihre Uraufführung „Train to Pluton“ zugute. Als Preisträgerin des Produktionspreises, der vom Nationaltheater und der Tanja-Liedtke-Stiftung beim Internationalen Choreografie-Wettbewerb in Hannover vergeben wird, hatte sie sich bereits in der letzten Spielzeit mit „Moonlight Innocence“ als Entdeckung empfehlen können. Mit ihrem neuen Stück über die geisterhafte Zugfahrt einer jungen Frau in die Abgründe ihrer eigenen Ängste griff sie tief in eine kreative, ästhetische Wundertüte, die neben schnellem, ausdruckssicherem Bewegungsvokabular filmische Elemente, Comic-Zeichnungen und einen außergewöhnlichen Soundtrack enthielt. Das so erzeugte fantastische Gruseln machte Lust auf mehr.
Unbeschwerte Jugendlichkeit
Und dann war noch das Eingangsstück „I New Then“ von Johan Inger (kreiert 2012 für die Juniorcompany von Nederlands Dans Theater). Der schwedische Choreografie-Tausendsassa (der gerade zuletzt an der Dresdner Semperoper eine Serie großer Handlungsballette kreiert hat) lässt darin neun Tänzer*innen in einer Atmosphäre unbeschwerter Jugendlichkeit ihrer individuellen Gefühle erkunden. Zu Liedern des irischen Singer/Songwriters Van Morrison zieht er das Publikum eher beiläufig in den Sog von Emotionen, die tief in der persönlichen Erinnerung jedes Einzelnen verankert sind. Höchstspannung ganz ohne großes Drama – ein kleines großes Meisterwerk.
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