Greg Lawrence:„Dance with Demons - The Life of Jerome Robbins“

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Stuttgart, 26/06/2002

Kein Zweifel: das wichtigste Ballettbuch der letzten Jahre – das ist Greg Lawrences „Dance with Demons – The Life of Jerome Robbins“, die Robbins-Biografie, auf die wir alle jahrelang gewartet haben (G. P. Putnam‘s Sons, New York 2001, 622 Seiten, $ 32.95). Ein Wälzer, in den sich einzulesen einige Mühe kostet wegen der allzu ausführlichen Interviews über jeden Lebensabschnitt, jede Broadwayproduktion, jede Ballettkreationen jenes Mannes, den alle, die mit ihm in Berührung gekommen sind, nur „Jerry“ nannten.

Doch wenn man erst einmal sich an die penible Interviewtechnik des Autors gewöhnt, sie verinnerlicht hat (er war der Ko-Autor von Gelsey Kirklands „Dancing on My Grave“), sieht man sich in den Sog dieser Berichterstattung und dieses Lebens verquirlt, aus dem es bis zum bitteren Ende kein Entrinnen gibt.

Welch ein Leben, das von 1918 bis 1998 währte! Lawrence hat ihm als Motto den Ausspruch des New-York-City-Ballet-Tänzers Mel Tomlinson vorangestellt: „Wenn ich in die Hölle komme, brauche ich mich vor dem Teufel nicht zu fürchten. Denn ich habe mit Jerome Robbins gearbeitet.“ Der war sich selbst Zeit seines Lebens sein eigener Teufel. Ein Mann, der selbst sein schlimmster Feind war: als Jude, der bitter unter dem Entzug der väterlichen Liebe litt, der sich einredete bisexuell zu sein und doch eindeutig schwul war, als Verräter an seinen politischen kommunistischen Gesinnungsgenossen, als Amerikas Choreograf Nummer eins, der doch immer im Schatten des noch größeren George Balanchine stand. Der bei seinem Tod ein Vermögen hinterließ, das auf 30 Millionen Dollar geschätzt wurde, die er auf viele Institutionen, Kollegen und Freunde verteilte – ein überaus großzügiger Wohltäter, der doch die vielen Wunden nicht heilen konnte, die er, ein Sadist im Umgang mit seinen Mitarbeitern und seinen zahllosen Liebhabern, geschlagen hatte.

Und doch, und doch ... Auch das wird bei der faszinierenden Lektüre klar: Ein Mann, der als Musicalproduzent wie als Choreograf ein Genie war, das einzige, das Amerikas musikalisches Theater neben Leonard Bernstein hervorgebracht hat – mit ihrer gemeinsamen „West Side Story“ als vielleicht bedeutendstem amerikanischen Beitrag zum musikalischen Welttheater (bei dessen Verfilmung in Hollywood er sich so unmöglich benahm, dass er Studioverbot erhielt und die Choreografie von Peter Gennaro zu Ende geführt werden musste).

Alles war überdimensional und außergewöhnlich an diesem „Jerry“, der offenbar nur ganz wenige glückserfüllte Momente kannte – wenn er seinen Hund ausführte oder Kindern beim Spielen zusah. Der achtzig Jahre lang daran litt, dass er niemals sein Ziel der absoluten Perfektion erreichte und seine permanente Frustration gnadenlos an seinen Mitarbeitern ausließ. Und der dann doch wieder von unwiderstehlichem Charme sein konnte – auch den Frauen gegenüber, von denen zumindest zwei daran glaubten, ihn für sich einnehmen zu können, so dass es bis zur Aufstellung des Aufgebots kam (zur Heirat dann aber doch nicht). Ein Mann, so komplex in seiner psychologischen und charakterlichen Disposition wie offenbar kein anderer in der über vierhundertjährigen Geschichte des Balletts!

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