Eine überwältigende Reklame für den Tanz

Heinz Spoerlis Züricher „La belle vie“

Zürich, 23/11/2002

Jetzt hat das Züricher Ballett aber einen Knaller in seinem Repertoire! Heinz Spoerlis abendfüllendes „La belle vie“, das er im Jahre 1987 während seiner Zeit als Basler Ballettdirektor uraufgeführt und nun an seine jetzige Wirkungsstätte übernommen hat, bietet den Ballettfreunden in überreichem Maße alles, nach dem sie sich sehnen – schwungvollen und mitreißenden Tanz, dass einem die Augen übergehen, eine dramatische Handlung, in der sich Gut und Böse mit Schmackes an die Kehle gehen, eine farbenselige Ausstattung (Martin Rupprecht) und nicht zuletzt eine blendende Collage aus fußkitzelnden Kompositionen von Jacques Offenbach. Zwei Stunden beste Unterhaltung.

Spoerli schildert den Niedergang einer Pariser Familie zwischen zwei Revolutionen. Die Rollen sind klar verteilt. Hier die barmende Mutter (Sabine Mouscardés), die an der bourgeoisen Gefühlsrohheit ihres Mannes beinahe zerbricht und sich tapfer von ihm trennt – wohlgemerkt nach einem Börsenkrach, bei dem das Vermögen der Familie in die Binsen geht –, dort der Mann (Dirk Segers), den es zu den willigen Ballettmädchen zieht. Eine Tochter (Ana Quaresma) ist die Moral in Person, die andere (Marine Castel) drängt es mit Macht zur Karriere als Flittchen. Der Sohn schließlich (Mateo Klemmayer) weiß nicht so recht und lässt sich nach einer Affäre mit der Ballettmeisterin (Karine Seneca), welche im Nebenberuf die fleischlichen Gelüste der besseren Herren mit den finanziellen Bedürfnissen ihrer Schülerinnen einträglich verquickt, von seiner guten Schwester dazu überreden, Revolutionär zu werden.

Das ist manchmal schrecklich melodramatisch und klischeehaft, aber unerhört bühnenwirksam eingerichtet. Überdies schwingt sich der Choreograf nicht zum Richter über seine Personen auf, sondern konstatiert sozusagen ungerührt ihre Schwächen und Stärken. Vor allem aber lässt er tanzen, dass die Fetzen fliegen. Feinstes, klassisches Ballett im Studio, hüftenschwenkende, erotische Frontalangriffe in den „Maisons close“ und Cancan satt in den gewissen Etablissements. Es hält einen kaum auf dem Sitz! Die Truppe legt los, als hätte sie vor der Premiere in Champagner gebadet. Und würden die echten Pariser Cancan-Tänzer sehen, was Nicolas Blanc und François Petit als Kellner Unglaubliches anstellen und wie Ana Quaresmas Beine, von Offenbachs Musik beflügelt, sinneverwirrend emporschnellen – sie würden ihren Beruf an den Nagel hängen.

Nun hat sich Spoerli allerdings nicht zu einer reinen Revue verführen lassen. Zwischen die eruptiven Szenen fügt er äußerst sensible, menschliche Momente, die lediglich von Soloinstrumenten begleitet werden. Die geistigen Kämpfe des Ehepaars, von einem spielenden und schwer atmenden Akkordeon (Ernst Roher) kommentiert und die erwachende Liebesglut zwischen der reifen Ballettlehrerin und dem sie und sich selbst verführenden Sohn gehören zu den besten Pas de deux, die Spoerli je geschaffen hat.

Dieser Ballettabend ist eine überwältigende Reklame für dieses Bühnengenre, so brillant erdacht wie ausgeführt, sentimental, plakativ und tanzversessen, sein Publikum von der ersten bis zur letzten Minute gefangen nehmend. Zumal das Opernorchester unter Nicolas Chalvin seinen Offenbach so spielt, wie er sein soll, funkelnd, rassig und bei Bedarf ungeniert gassenhauerisch. Das muss man gesehen haben.

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