Italienische Begeisterung für „Don Chisciotte“

Wichtige Debüts beim fünftägigen Gastspiel des Bayerischen Staatsballetts

Venedig, 22/09/2002

Passend zur Serenissima, stand der heitere Klassiker von Marius Petipa in der Version von Ray Barra vom 18. bis 22. September auf dem Programm des Palafenice. Zwischen den Palazzi von Venedig begab man sich auf Vaporettos über das Wasser der grünen Lagune zum weißen Zelt am Hafen, das als alternative Spielstätte für das nach der Brandkatastrophe von 1996 schon weitgehend rekonstruierte Gran Teatro La Fenice (vgl. die Fotos auf www.teatrolafenice.it) dient. Ein internationales Publikum sorgte für ausverkaufte Vorstellungen, schien aber zu zaudern, ob es sich der unter der Leitung von Myron Romanul vom Orchester des Palafenice voll- und wohltönend gespielten Gute-Laune-Musik von Ludwig Minkus hingeben sollte. Die tänzerische Leistung des Ensembles überwand jedoch alle Bedenken in Minutenschnelle.

Die italienischen Zeitungen feierten die präzise Eleganz des Corps de ballet ebenso wie die Solisten der Erstbesetzung: Zwar überschattete die Leistung von Lisa-Maree Cullum und Alen Bottaini, als Kitri und Basilio ein fulminantes Liebespaar mit souveräner Technik, in meinen Augen erstmals ein Anflug von Routine, aber beide verwischten mit ihrem Charme den Eindruck des Gewohnten wieder und rissen letztlich doch mit. Eine neu erstarkte Kusha Alexi überzeugte als zauberhafte Dulcinea mit ergreifenden Adagio-Qualitäten, Peter Jolesch ist immer noch eine kongeniale Verkörperung des anachronistischen Don Quijote, und Patrick Teschner, der seinem Sancho Pansa neue Frische eingehaucht hat, entfaltet sich in dieser Rolle immer freier. Dazu kamen der hünenhaft wirkende Roman Lazik als temperamentvoll-dominanter Torero und Sherelle Charge als dessen Freundin, die sehr geschmackvoll zwischen verführerischer Attitude und tänzerischer Gediegenheit Balance hielt.

Vor Tanzlust sprühend, waren Udo Kersten und Guan Deng animierende Spanier, Marc Geifes agierte als reicher Camacho auf komödiantischem Höchstniveau an der Seite von Jürgen Wienert, der als Kitris Vater eine überaus menschliche Charakterstudie entwarf. Laure Bridel-Picq leitete als fein pointierender Amor den zart schwebenden Traum des zerschundenen Ritters ein, in dem das weiibliche Corps de ballet die Brillanz des Weißen Aktes erstrahlen ließ. Ein weiterer Grund zur Freude war – erstes Debüt! – die als Solistin neu engagierte Barbora Kohoutkova in der ersten Traum-Variation. Sie schwang die italienischen Fouettés relativ flach, erwies sich aber in der Kunst der bedeutsamen Verzögerung als Meisterin und zog die Zuschauer mit anziehend narrativer Phrasierung ihres Tanzes in Bann.

Die beiden Vorstellungen der Zweitbesetzung gelangen noch inspirierter. Denn was Maria Eichwald als Kitri tanzte, das darf, nein, muss man phänomenal nennen. Sie hat von Anfang an alles im Griff, hat offenbar alle Nuancen ihres detaillierten Vortrags vorher bedacht und integriert sie spielerisch in das hohe Tempo ihrer Partie, wirkt dabei mühelos und natürlich, nutzt jeden Augenblick und verbreitet ansteckende Freude. Schöpft sie aus universellem Bewusstsein, wenn sie Aspekte ihrer Figur aufblitzen lässt, die wir überrascht als zu dieser gehörend (wieder)erkennen? An ihrer Seite debütierte der gerade zum Solisten ernannte Lukas Slavicky, trotz seiner Jugend – er ist gerade 22 geworden – ein Basilio voll natürlicher Herzlichkeit, technisch brillant, zu imponierenden Sprüngen befähigt, mit szenischer Phantasie begabt und, bei aller Aufmerksamkeit als vorzüglicher Partner, einer, der aus Momenten gelassener Ruhe heraus auf der Bühne wirklich präsent wird. Wohl hatte er in Eichwalds charismatischem Spiel eine wertvolle Stütze, aber er wirkte neben ihr bereits als Sympathieträger.

Ganz anders Barbora Kohoutkova: Bei ihr paaren sich Stärken und Schwächen. Eine geringere Flexibilität und Höhe der Beine gleicht sie durch Drehfreudigkeit und Sprungkraft aus; künstlerisch ist sie hochkultiviert und erfahren. Ihre Dulcinea war ein erhabenes Traumbild, Liebe erwidernd, vornehm Distanz gebietend und anziehend zugleich. Ganz überraschend tanzte Oliver Wehe neben ihr den Don Quijote, der zwar nicht immer klar vermittelte, welche Ideale ihn vorantreiben, aber im Tanz mit Kohoutkova schön harmonierte. Als Sancho Pansa versuchte sich erstmals ein vital aus sich herausgehender Roland Podar, der die Chance nutzte, Interesse für sein Potenzial in weiteren Rollen zu wecken.

Venedig erlebte das Bayerische Staatsballett in grandioser Frühform. Die Kompanie, die Tänzer so vieler verschiedener Schulen vereint, hat eine spannungsvolle Geschlossenheit erreicht und tanzte, ob man die Freunde und Freundinnen, Toreros oder Damen des Weißen Aktes betrachtete, so lebendig, dass es nur so funkelte. In den drei mittleren Vorstellungen, die ich sah, hielt das Ensemble die Qualität auf diesem hohen Niveau und rief – vermutlich nicht nur in mir – das Bewusstsein (wieder) wach, was für eine verehrungswürdige Kunst das klassische Ballett ist. Schade nur, dass dieser vorzüglich einstudierte „Don Quijote“ dem heimischen Publikum in dieser Spielzeit vorenthalten bleibt!

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