Sehr erfolgreich auf neuen Wegen
Premiere „Tanzsichten“ beim Stuttgarter Ballett
Verregnet, in sich gekehrt und todbringend – im Jahr 2002 ist Ballett eine deprimierende Kunst. Man würde die Ansammlung von düsteren Stücken gerne für Zufall halten, die im Stuttgarter Schauspielhaus unter dem Titel „Tanzsichten“ Premiere hatte (der nun wirklich für jeden dreiteiligen Ballettabend passt). Aber wahrscheinlich ist sie symptomatisch für den Zustand der Tanzkunst.
Marguerite Donlon, die aus Irland stammende Saarbrücker Ballettdirektorin, hat sich für „Somewhere between Remembering and Forgetting“ einen hellen Raum mit perspektivisch ins Dunkle verengten Wänden entworfen. Immer wieder steht hinten jemand im Regen und sinniert – vielleicht sieht man vorne seine Erinnerungen, vielleicht ist aber auch etwas ganz anderes gemeint. Zu dramatisch dräuender Minimal Music, unterbrochen von englischen Gedichten und einem elektronisch-fetzigen Mittelteil, evozieren zwei Damen und vier Herren vage Bilder „zwischen Erinnern und Vergessen“. Es ist das nur zu bekannte strukturlose Puzzle aus Soli, Duos und Pas de deux, aus hochtrabend-verrätselten englischen Sätzen und losgelöst zuckenden Ellbogen oder Händen. Eric Gauthier hat ein Solo, das allzu sehr an seinen brillanten Auftritt im letzten Kevin-O'Day-Stück erinnert, später scheucht er im Kasernenhof-Ton die anderen Tänzer roboterartig herum. Natürlich tanzen die intensive Katja Wünsche und ihre Kollegen das mit Präzision, Nachdruck und Hingabe, aber kann man diese Tänzer überhaupt schlecht aussehen lassen? Sie haben eine größere Herausforderung verdient.
Auch bei Douglas Lee wird gesprochen – in „Cindys Gift“ erklingt neben Musik von John Cage die Geschichte eines kleinen Mädchens aus dem Off, wobei immerhin die Verbindung zwischen Text und Tanz erkennbar wird. Auch in seinem fünften Ballett verfolgt der Solist des Stuttgarter Balletts unbeirrbar, ja fast eigenbrötlerisch seinen skurrilen Stil und unterscheidet sich auf ganz erstaunliche Weise von dem, was „in“ ist. Zu dem hektischen, erregten Armwedeln etwa, das manch aktueller Choreograf für den Gipfel allen Ausdrucks hält, lässt sich der junge Brite nie verleiten; seine Tanzsprache orientiert sich am klassischen Ideal und bindet stets den gesamten Tänzerkörper ein. Die ausgeglichenen, oft spiegelbildlich an der Horizontal- oder Vertikalachse ausgerichteten Bewegungen sind von einer ruhig fließenden Harmonie, die der dunklen Stimmung von Lees Balletten eigentlich entgegenwirkt – letztere entsteht erst durch die erschlafften Gliedmaßen, die fast ständig gesenkten Köpfe, die gekrümmten Rücken. Trotz eines Kommunikationsversuchs behält das Nebeneinander der still leidenden Außenseiterin Bridget Breiner und einer sechsköpfigen, anonymen Gruppe durchgehend eine resignierte Färbung. Lee choreografiert eine Zustandsschilderung, keine Entwicklung. Mag das titelgebende Gift auch lähmend und niederdrückend sein – aber es wirkt und verbreitet eine düstere Faszination, einen dunklen Sog, der Douglas Lee zum interessantesten Choreografen beim Stuttgarter Ballett macht.
Bei Daniela Kurz spricht niemand, und ihr Ballett trägt einen deutschen Titel – dafür schon mal danke. Zu Musik von Elena Kats-Chernin greift „Schere Stein Papier“ das alte Knobelspiel mit den Handzeichen auf, das hier aber mit drei statt zwei Beteiligten gespielt, oder besser getanzt wird. Wie Wüstensöhne treten Robert Conn, Eric Gauthier und Jason Reilly in langen, weißen Röcken an, schwingen an Seilen weit in den Zuschauerraum hinaus und präsentieren ihre jeweiligen Symbole auf würfelförmigen Podesten – neben Klinge, Stein und Buch sind das auch mal ein Bäumchen oder eine Handgranate. Echte Gegner sind die drei tanzenden Derwische nicht wirklich, weil sie oft genug miteinander, nicht gegeneinander tanzen, während der Bühnenboden langsam von ganz oben nach tief unter die Erde fährt. Am Schluss wird einer der drei ermordet, und Schere, Stein, Papier erscheinen symbolisch vereint im Vordergrund. Schon allein auf Grund seiner hohen Dynamik war „Schere Stein Papier“ das am heftigsten bejubelte Stück des Abends – ein Erfolg, der vielleicht ein wenig zu sehr auf athletischen Sprüngen, auf effektvoll wehenden Röcken und Jason Reillys prachtvollem Brustkorb beruht.
Die neuen Stuttgarter „Tanzsichten“ können leicht eine Depression auslösen, und das nicht nur wegen der pessimistischen Themen, sondern durch den bleiern lastenden Eindruck des Hermetischen und Verrätselten. Es ist ja nicht so, dass wir nicht über Tanz nachdenken wollen, aber Ballett ist eine augenfällige, das heißt mit den Augen verstehbare Kunstform, deren Meisterwerke ohne den langen, un-sinnlichen und oft genug trotzdem ratlos lassenden Umweg über Programmhefte, rätselhafte Titel und Texte oder wilde Assoziationen auskommen.
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