Eine tänzerische Grundsatzerklärung

Zwei neue Stücke von Marco Santi und Morgan Belenguer in Stuttgart

Stuttgart, 10/01/2002

Allmählich beginnt sich die Existenz des vor zwei Jahren unter starken Geburtswehen installierten Stuttgarter Produktionszentrums Tanz und Performance auszuzahlen. Ohne seine Probenräume und technische Unter-stützung wäre das permanent kränkelnde Marco Santi Danse Ensemble wohl kaum noch dazu in der Lage, regelmäßig neue Werke herauszubringen, selbst wenn es seine ständig wechselnden Mitglieder schon seit geraumer Zeit nur mit Stückverträgen an sich binden kann. Sein jüngstes Tanzstück „Das Myster-um der Zahlen“, diesmal je zur Hälfte von den Choreografen Marco Santi und Morgan Belenguer geschaffen, nimmt sich sogar relativ opulent aus – immerhin wird es im Wangener Theaterhaus zu einer Auftragskomposition von Roderik Vanderstraeten aufgeführt.

Die Choreografen sind auf vielerlei Weise dazu angeregt worden, die Beziehungen zwischen den Zahlen und dem Tanz zu erforschen und zu ordnen. Ihre Stücke, jeweils von fünf Damen getanzt, lassen ohne diese Erklärung allerdings kaum etwas von diesen Wechselwirkungen erkennen. Mit ihr eher, zumal nun auch Santi der leider immer mehr um sich greifenden Unsitte verfallen ist, seinen Darstellerinnen nicht nur gestikulierende, strenge Gesten, Stürze, wirbelnde Drehungen und gewaltige Hechtsprünge aus dem Liegen zu verordnen, sondern sie auch an vier Pulten mit Overhead-Projektoren im Hintergrund zu mathematischen Formeln gleichzeitig in verschiedenen Sprachen unverständlich vom „Goldenen Schnitt“ und Pythagoras brabbeln zu lassen.

Dabei geht es einigermaßen rabiat zu. Die Damen in Straßenanzügen und High Heels schubsen sich zunehmend aggressiver von den Pulten, führen am Boden Machtkämpfe aus. Nach und nach entledigen sie sich der Schuhe und Jacken und benehmen sich menschlicher. Haben sie „ausgerechnet“, dass sie anders nicht klarkommen? Ein interessantes, allerdings nicht übermäßig originelles Stück. Dass Santi auf fünf Säulen große Goldfische sich in winzigen Glaskugeln quälen lässt, wäre indes selbst dann nicht akzeptabel, wenn es einen Sinn ergeben würde.

Belenguer macht es uns leichter. Er zeigt vier Tänzerinnen in fleischfarbenen Büstenhaltern und Schlüpfern, Schlafmasken über den Augen, die im Nichts ihren Weg suchen, sich durch intensive Umarmungen gegenseitig erforschen, auf dem Boden unerhört athletische, ziellose Kampfübungen vollführen, während im Hintergrund eine Dame im Wollkleid gleichlange Stäbe vom Boden pflückt. Die verteilt sie schließlich an ihre Kolleginnen. Die beginnen die Maßstäbe an sich selbst und ihre Nachbarinnen anzulegen, sich zu messen, sich ihrer selbst durch das Erkennen der Mathematik bewusst und endlich sehend zu werden. Erst der Wissende ist ein Mensch und trägt als solcher am Ende das Normkleid der Zivilisation. Eine Frau allerdings entzieht sich der Prozedur, bleibt gewissermaßen nackt und blind.

Diese tänzerische Grundsatzerklärung, mit Verve und Engagement getanzt, ist eine wertvolle Bereicherung der etablierten Stuttgarter Off-Szene und hoffentlich der Auftakt zu einer Reihe weiterer Arbeiten von Belenguer. Vanderstraetens Musik, eine über weite Strecken faszinierende Mischung aus verwunschenem, elektronischen Sound und rhythmisch drängender Perkussion, ist beiden Stücken sicherer Klangmantel und aktiver Partner zugleich. Ein sehenswerter Abend, der sicher noch mehrere Aufführungsserien erleben wird.

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