„Rendez-vous avec Chopin“

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Stuttgart, 29/11/2002

Drei Ballette zu Musik von Chopin, verklammert durch den Titel „Rendez-vous avec Chopin“, als jüngste Premiere des Stuttgarter Balletts: eine löbliche Idee der Stuttgarter Ballettdirektion, formidabel getanzt und vom Publikum mit einhelliger Begeisterung aufgenommen. Zumal da es sich um drei grundsätzlich verschiedene choreografische Annäherungen an Chopin handelt: „Les Sylphides“ von Michail Fokine aus dem Jahr 1908, Jerome Robbins‘ „Dances at a Gathering“, uraufgeführt 1969, und Christian Spucks für diese Premiere choreografiertes „Nocturne“ zu einer (sehr) frei nach Chopin komponierten Auftragsmusik von Arne Vierck. Drei verschiedene Zeitalter, drei verschiedene Städte: St. Petersburg, New York und Stuttgart – drei sehr verschiedene Arten des Umgangs mit Musik.

„Les Sylphides“, von den Ballettomanen als eine Ikone verehrt – noch im neuen „Reclams Ballettführer“ als der Beginn der „Geschichte des handlungslosen, abstrakten Balletts des 20. Jahrhunderts“ gefeiert, ist für jeden Verehrer Chopins ein Greuel: der (un-)musikalische Sündenfall des modernen Balletts. Unmöglich verschleppte Tempi und dazu noch diese aufgeblasene Orchesterfassung, die alle pianistischen Subtilitäten killt. Ein Ballett, am besten mit Ohropax zu genießen – da mag Valentina Savina noch so gründliche Einstudierungsarbeit geleistet haben, das Corps sich die Seele aus dem Leib tanzen, ein junger Nachwuchstänzer, Mikhail Kaniskin, sich mit Eleganz in den Rang eines Premier danseur katapultieren, mögen sich Roberta Fernandes, Elena Tentschikowa und Yseult Lendvai zusammen mit ihren Kolleginnen Elisa Carrillo Cabrera und Emma Pearson als Premiere-Ligue-Ballerinen erweisen: dies ist der Offenbarungseid der Unmusikalität (Danilova studierte „Les Sylphides“ 1972 beim New York City Ballet ein – zur Klavierbegleitung, in Trainingskostümen: ein vergeblicher Rettungsversuch).

Danach dann Chopin pur, „Dances at a Gathering“ (fehlt leider im neuen Reclam), mit Glenn Prince am Flügel als Wiedergutmachung an dem von Fokine so schmählich verratenen Komponisten. Zehn Tänzer, fünf Paare, keine Handlung – nur scheue Gesten der Verbundenheit, Tänze klassisch, gelegentlich leicht folkloristisch akzentuiert, einzeln, paarweise, in kleineren Ensembleformationen, eine Tänzer-Sozietät im lächelnden Einverständnis mit sich selbst und der Musik – den Schluss allerdings mit dem fragend in den Himmel gerichteten Blick sehen wir nach dem 11. September anders als vor einem Vierteljahrhundert. Die Tänzer: Sämtlich Edelsteine aus der Juwelen-Schatulle des Stuttgarter Balletts – angeführt (und beschlossen) von Kaniskin in der Villella-Rolle (in Braun) – aber hier muss man nun wirklich jeden nennen: Sue-Jin Kang, Yseult Lendvai, Roberta Fernandes, Elisa Carillo Cabrera und Katja Wünsche, Jorge Nozal, Friedemann Vogel, Jason Reilly und Javier Amo Gonzales.

Ein Ballett, Chopin-süchtig und -süffig und doch ganz heutig – so schön, so human, so zivilisiert kann Ballett sein! Und abermals eine andere Gangschaltung, dominiert von Arne Viercks computer-gezeugter und gesteuerter Chopin-Verschredderung – in Christian Spucks futuristisch-surrealistisch in der Luft hängendem, von Ikea mit Sofas ausgestattetem No-Man‘s-Land. Sechs Tänzerinnen und zwölf Tänzer (darunter solche Kaliber wie Bridget Breiner, Alicia Amatriain, Tentschikowa und Wünsche, Friedemann Vogel, Reilly, Conn und Kaniskin) – von Nicole Siggelkow eingekleidet wie aus dem Atelier von Versace –, von Spuck choreografisch aufgeladen mit Elektrizität, Speed und Ecstasy, die sich in sozusagen lässiger Rasanz daueraufgeregt bewegen – seltsame Wesen, gesichtslos: Tanzterroristen im Training für die Welt von morgen.

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