Spuck am Ufer des Lake Forsythe gestrandet

Stuttgarter Premiere „Rendez-vouz avec Chopin“

Stuttgart, 29/11/2002

Christian Spuck hatte doch schon eine eigene choreografische Sprache gefunden, zu der ihm Publikum und Kritik beinahe uneingeschränkt applaudierten. Das war vor zwei Jahren und fand in seinem „Das siebte Blau“ einen schönen Höhepunkt. Seither aber driftet der mittlerweile zum Stuttgarter Hauschoreografen Ernannte in merkwürdige künstlerische Gewässer ab und ist mit dem jetzt uraufgeführten „Nocturne“ gewissermaßen am Ufer des Lake Forsythe gestrandet. Denn dieses Stück für achtzehn schwer beschäftigte Damen und Herren, als tänzerische Belehrung über den richtigen Umgang mit der Musik Frédéric Chopins gedacht, mutet wie ein Werk des Frankfurter Ballettchefs an, und seine von Arne Vierck konzipierte, elektronische Musik wie ein Opus von dessen Lieblingskomponisten Thom Willems.

Da sehen wir sie also überaus dynamisch in neoklassischer Manier bewundernswert rasant und stählern drehen, springen und Beine werfen, die Damen auf Spitze, hier und dort schert einer aus, bläst Trübsal oder ruht auf den reichlich vorhandenen Sofas, dann hechtet er wieder in den Mahlstrom dieser atemlosen Choreografie, aus der wir nichts über Chopin erfahren. Im Hintergrund sitzt Vierck und schickt hektische Klangkanonaden in die Lautsprecher, über allem hängt ein Flügel, als drohe er, jeden Moment niederzustürzen und dem Spu(c)k ein Ende zu machen. Das ist kein schlechtes Stück, und dass es seinen Interpreten einen Heidenspaß bereitet, will man gerne glauben. Nur ist es weder originell, noch wird es seinem eigenen Anspruch gerecht. Nicht mit den Lichtwechseln à la William Forsythes „Approximate Sonata“, nicht mit dem Sofarücken à la Forsythes „One Flat Thing“. Was daraus hätte werden können, das blitzt kurz in einem fließenden Pas de quatre zu Chopins Originalmusik auf. Vielleicht beim nächsten Mal.
Schließlich hat die Premiere das Motto „Rendez-vouz avec Chopin“, und deshalb liefert sie noch zwei Beispiele dafür, wie dieser Komponist verstanden werden kann.

Die Wiederaufnahme von Michail Fokines Meisterwerk „Les Sylphides“ aus dem Jahre 1907 ist mit ihrer sämigen Orchestrierung von Moritz Keller und den unsäglich gedehnten Tempi (James Tuggle am Pult des Staatsorchesters) zwar ein Graus für die Ohren, aber ihre luzide Choreografie, dieses überwältigend schöne Kompendium des romantischen Tanzes, entzückt dafür in höchstem Maße. Zumal sich das Stuttgarter Corps, von wenigen Wacklern abgesehen, als sein stilsicherer Anwalt erweist und Mikhail Kaniskin als Poet mit verblüffender Perfektion über die Bühne schwebt. Brillant auch seine Solisten-Kolleginnen Yseult Lendvai, Roberta Fernandes und Elena Tentschikowa.

Die Erstaufführung der berühmten „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins, eine willkommene Ergänzung für Stuttgarts schon beachtliches Robbins-Repertoire, geriet zum Höhepunkt des Abends. Zugegeben, wirken sie mit gut einer Stunde Dauer inzwischen etwas lang, aber diese schwungvollen Tanzpiecen allein, zu zweit und zu mehreren haben seit der Uraufführung im Jahre 1969 nichts von ihrem anekdotischen Reiz und ihrer natürlichen Bewegungsfreude verloren. Melancholisch und jugendlich frisch tändeln sie dahin, lächelnd ganz der Freude am Tanz hingegeben, wirklich auf den Flügeln der Musik, die Glenn Prince am Klavier mit viel Geschmack und Verve zelebriert. Und die je fünf durchweg persönlichkeitsstarken Damen und Herren der Truppe – wieder herausragend Mikhail Kaniskin – bleiben Robbins wahrlich nichts schuldig. Stuttgart kann auf dieses Programm stolz sein.

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