Feine Staubschicht

Wiederaufnahme von John Neumeiers „Peer Gynt“ beim Hamburger Ballett

Hamburg, 11/03/2002

Anders als bei zum Beispiel bei Forsythe oder Béjart sind John Neumeiers Werke selten Works in Progress – haben sie erst einmal das Bühnenlicht erblickt, dann bleiben sie, wie sie sind. Nach fast zehn Jahren wurde in Hamburg nun seine Ibsen-Bearbeitung aus dem Jahr 1989 neu einstudiert, die damals mit Ivan Liska in der Titelrolle des Herumtreibers und Lügenerzählers uraufgeführt worden war. Wie meist bei Neumeier bewundert man zuerst seine dramaturgische Intelligenz – die Epoche des stringent entwickelten, expressiven Handlungsballetts scheint leider mit ihm zu Ende zu gehen.

Allein: die choreografische Umsetzung wirkt hier seltsam disparat, was das Werk kopflastig macht. Sicher ist die Vervielfachung der Hauptperson ein genialer dramaturgischer Einfall, nur sind Peers „Aspekte“ – sieben Figuren, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten und die Namen wie Kindheit, Erotik, Aggression oder Zweifel tragen – lediglich über den Besetzungszettel identifizierbar, kaum aus dem Bühnengeschehen. Neumeiers Tanzsprache scheint sich so assoziationsreich und bunt wie Ibsens Vorlage entfalten zu wollen, von den eckigen, abgewinkelten Bewegungen der norwegischen Bauern über die Party-Gesellschaft der Trollwelt bis zur Revue-Szene des zweiten Akts, die das orientalisches Zwischenspiel des Dramas in die glitzernde Welt des Monumental-Films übersetzt.

Wohl lag es in der Absicht des Choreografen, dieser Revue-Szene einen tieferen Gehalt zu geben, indem er Peers Aspekte als doppeldeutige Akteure in sie hineinstellt. Aber irgendwie gelingt ihm die Überhöhung der Szene nicht recht – wenn die ägyptischen Lustdamen und die halbnackten Sklaven zu lange über die bonbonfarbene Bühne schmachten, dann verliert die Filmszene sehr schnell den Symbolgehalt und bleibt nur kitschiges Dekor. Im Charakter der Titelfigur entsteht an dieser Stelle ein Bruch, weil der plötzliche Übergang von den Mats-Ek-Bewegungen des naiven Träumers zum eleganten Broadway-Stil des Revuetänzers Peer Gynt nur schwer nachzuvollziehen ist.

Bis hin zum merkwürdig bevölkerten Schluss mit den vielen Paaren, die in einem „endlosen Adagio“ Peers und Solveigs Zweisamkeit extrem langsam nach-zelebrieren, ist der dritte Akt dann wieder abstrakter und deshalb wesentlich dichter. Dazu trägt natürlich die eigenwillige, nahezu monumentale Partitur Alfred Schnittkes bei, die stilistisch so weit gespannt ist und in der doch manchmal ein berührend naives Pathos anklingt. Jürgen Roses hereinkippende, großformatige Farbflächen unterstützen die verschiedenen Stimmungen.

Bei aller Kopflastigkeit kreiert Neumeier immer wieder rechtzeitig Bilder von ergreifender, direkter Aussagekraft: Peers Mutter Aase, die tot in seinem Kinderwägelchen liegt, das kollektive Irre-Werden aller Peer-Figuren in ihren Zwangsjacken, oder die blinde Solveig, die wie eine Visionärin inmitten der Menge von grauen Jedermännern ihren Peer ertastet und ihn so dem Dasein als Mann ohne Eigenschaften entreißt.

Als Protagonist der Neueinstudierung geht Carsten Jung deutlich bis an die Grenzen seines körperlichen Vermögens, aber noch fehlt ihm die letzte Prägnanz, dieses unfehlbare Wissen um den Sinn jeder Bewegung, wie es zum Beispiel Lloyd Riggins als Peers Zweifel-Aspekt besitzt. Wo man in Neumeiers Erlösungsschluss bei Peer einen Übergang vom Suchen zum Wissen vermuten würde, da ändert sich nicht viel auf Jungs Gesicht. Elizabeth Loscavio macht aus Solveig ein ernsthaftes, etwas ältliches Mädchen, aber sie ist kaum die sanfte Lichtgestalt, die tröstliche Ruhe und Erlösung, nach der Peer sucht.

Am Schluss bleibt das leise Gefühl, als hätte der Choreograf sein Ballett nach so langer Zeit doch bearbeiten müssen; jetzt wirkt die Aufführung ein wenig, als hätte uns John Neumeier voll Schöpferstolz in sein persönliches Museum eingeladen – zu begeistert, um die feine Staubschicht auf seinem Prunkstück „Peer Gynt“ zu erkennen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern