Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Schwierig, sehr schwierig, dem intellektuellen Anspruch dieses „Tod in Venedig“, Ein Totentanz von John Neumeier, nach seiner Voraufführung im Festspielhaus Baden-Baden (die Premiere ist für den 7. Dezember im Hamburger Opernhaus geplant) im Rahmen der üblichen kj-Dimensionen gerecht zu werden. Wobei abermals betont werden muss: dies ist keine Kritik, sondern ein Journal, also eine Art Tagebuch.
Als Thomas Manns „Tod in Venedig“ erschien, war er 37 Jahre alt – und man konnte nur staunen über die psychologische Tiefenschärfe dieses Porträts eines alternden, weltberühmten Schriftstellers am Ende seines Lebens und die vielschichtige Darstellung der Problematik seiner spät entdecken Liebe zu einem vierzehnjährigen Jüngling – damals ein absolutes Tabu-Thema. John Neumeier, inzwischen einundsechzig, greift dieses Thema 2003 „frei nach der Novelle von Thomas Mann“ – unter gänzlich veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen auf. Bei ihm ist Manns Schriftsteller zu einem Choreografen mutiert – nichts Ehrenrühriges, nachdem Visconti in seinem Film 1971 den Schriftsteller schon in den Komponisten Gustav Mahler verwandelt hatte – Choreograf offenbar einer von Balanchine geprägten apollinischen Ästhetik – und bedient sich dazu einer musikalischen Collage aus Johann Sebastian Bach (diverse Bearbeitungen seines „Musikalischen Opfers“) und Richard Wagner (diverse Komposition aus den „Tristan“-Jahren, zumeist in Klaviertranskriptionen, von Elizabeth Cooper am Flügel hinreißend musiksensibel realisiert).
Gleichwohl hätte man sich einen musikalischen Adaptor mit eigener kompositorischer Handschrift gewünscht – sagen wir einen Polystilisten vom Format eines Alfred Schnittke. Neumeiers Grundidee klingt bestechend: die Gegenüberstellung der strengen Ordnung Bachs – exemplifiziert an einem Ballett über Friedrich den Großen, an dem der Choreograf arbeitet (und es war bekanntlich Friedrich II., der Bach das Thema zum „Musikalischen Opfer“ geliefert hat) – mit der rauschhaften „Tristan“-Ekstatik Wagners, die so entscheidend von Venedig geprägt erscheint. In dieses Netzwerk zwischen Bachscher Ordo und Wagnerscher Lust hat er seine Personnage untergebracht, großenteils von Mann bezogen, den umgeschulten Aschenbach, auch den Flöte spielenden Preußenkönig (nach dem Menzel-Bild) und die Ballerina La Barbarina, die skurrilen Figuren, die er als Doppelgestalten auftreten lässt (Der Wanderer, der Friseur, ein Tanzpaar, der Gitarrist usw. – das machen die beiden Bubeníčeks fabelhaft, in einem Groteskstil, den Stefan Raab choreografiert haben könnte), die polnische Familie mit dem Knaben Tadzio und seinen Gespielen mitsamt dem Freund Jaschu (elektrisierend: Arsen Megrabian – eigentlich eine Idealbesetzung für den Tadzio), die Gesellschaft des Hotels am Lido, die Jungen am Strand und die Totengondolieri.
Das ergibt viele Bilder, manche ganz kurz, oft von bestechendem ästhetischen Reiz (Bühnenbild: Peter Schmidt, Kostüme: Neumeier und Schmidt). Choreografisch am gelungensten erscheinen die formalen Neoklassizismen à la „Apollo“, auch das Paar, das „Seine Konzepte" verkörpert (Silvia Azzoni und Alexandre Riabko), eher gemeinplätzig die Gesellschaftsszenen und Spiele am Strand, ziemlich verkrampft das Bacchanal-Gerangel, hoch problematisch dagegen die Begegnungen Aschenbachs (schwankend zwischen kreativer Menopause, erotischer Faszination und frustrierter Gedankenblässe: Lloyd Riggins) und Tadzios (Edvin Revazov – „vollkommen schön“ im Ausdruck von holdem und göttlichen Ernst erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit?; eher doch wohl eine eklatante Fehlbesetzung) mit ihren zwar zögerlichen, aber schließlich doch ganz handfesten physischen Kontakten.
Na ja, wir sind eben neunzig Jahre aufgeklärter und emanzipierter und Hamburgs Aschenbach hat im 21. Jahrhundert sein Outcoming bereits hinter sich. Heißt er in Wirklichkeit womöglich Wolfgang Joop? Und so wähnt man die beiden, den Starautor und seinen ungeschlachten Boy aus der Russen-Mafia, am Schluss happy und vereint auf dem Weg ins Standesamt von Hamburg-Blankenese, wo Ole von Beust bereits ihrer harrt, mit Klaus Wowereit und Volker Beck als Trauzeugen.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments