Vom unterkühlten „Dornröschen“ zum lebendigen Märchenballett

Ivan Liskas Neuproduktion an verschiedenen Abenden

München, 06/12/2003

Petipas Original gemäß herrscht im ersten Akt von „Dornröschen“ klassische Symmetrie - in der Anordnung der Bühnenelemente, in deren Mitte Auroras Wiege steht, wie in den tänzerischen Formationen. Das Corps de ballet des Staatsballetts tanzt stilsicher, wirkt in seiner Geschlossenheit souverän und präsentiert in schönen Tableaus die Fliederfee als oberste der guten Feen. Deren Variationen werden allesamt fein hingetupft. Die böse Fee, en travestie besetzt wie 1890, spielt Norbert Graf mit Leidenschaft und Können, doch seine Partie wirkt als einzige choreografisch nicht rund. Strahlend, begütigend und ruhig, denn das Gute ist stärker, bestreitet Sherelle Charge mit Carabosse die Pantomime über Auroras Schicksal. Am Ende des Prologs wird das Baby zwischen den diagonalen Reihen von Tänzern und Feen selbst sichtbar, während sich Eltern und Fliederfee in diesem schönen Bild aufeinander zubewegen.

So weit, so gut! Ein Zwischenspiel vor grünem Hänger mit Zweigen, die sich in lauen Winden regen, und ein schöner Beleuchtungsübergang geleitet in den ersten Akt. Im Lichtdesign von Christian Kass wirkt die angejahrte Ausstattung wie neu. Das Corps tanzt mit den Bosl-Kindern fröhlich den Girlandentanz, alles erinnert an ein Frühlingsfest. Auroras Auftritt ist bestens vorbereitet.

Lisa-Maree Cullum tanzte in der Premierenvorstellung brillant, bestach u.a. durch das langsame Absenken aus der gestochenen Arabeske, bestand die schwierigen Balancen und war technisch ohne Makel. Aber sie war nie jung, freudig oder verspielt. Auch bei ihren späteren Variationen und Pas de deux erweckte sie den Eindruck, als käme sie nicht los vom prüfenden Blick in den Spiegel. Deshalb kam außer tänzerischer Perfektion nichts rüber, und um sie herum erstarrten alle in genauer Pflichterfüllung. Roman Lazik tanzte Prinz Désiré mit der immer stärker herausgearbeiteten Linie eines Danseur noble und wirkt, im Gegensatz zu früherer Umdüsterung, seit seinem Drosselmeier in Neumeiers „Nussknacker“ wie zur Kreativität befreit. Sherelle Charge entfaltete in ihren getanzten Erzählungen, die in ihm die Vision seiner Liebe evozieren, reichen Feenzauber. Dieser trug auch den schönen Pas de deux, in dem Liska Désiré (anstelle der Kahnfahrt übers Wasser) der Fliederfee folgen und gleichzeitig treibende Kraft sein lässt. Im Pas de trois zwischen den Nymphen schien er wirklich zu glühen, doch Aurora respondierte wenig. So fehlte das Märchen, und das Ballett langweilte phasenweise. Die funkelnde Erfrischung durch den Blauen Vogel (Lukas Slavicky) und Prinzessin Florine (Maria Eichwald) war einsame Spitze und hatte darin auch ihre schmerzhafte Seite.

In den beiden Folgevorstellungen ging mit dem Auftritt Auroras augenblicklich die Sonne auf. Angesichts von Lucia Lacarras detailliertem Rollenspiel lacht einem das Herz. Sie flirtet mit jedem, und während in der Premiere die Begegnung mit den vier Freiern eine technische Leistung war, macht Lacarra sie zu einer Reverenz an die attraktiven Männer und die Momente des Festtags - man kommt nie auf die Idee, dass das schwierig sein könnte. Tanzte auch das Ensemble von Auroras Freundinnen deshalb akzentuierter? In ihrer 2. Variation genoss Lacarra ihre faszinierende Beweglichkeit, musikalisch und in jeder Phrasierung überzeugend. Kleine Wackler überspielte sie, neckisch von den Haar- bis in die Fußspitzen. Atemberaubend spielte sie die Wirkung des Stichs an der Spindel und das Drama ihres „Sterbens““.

Im zweiten Akt hat sie mit Cyril Pierre einen noblen Partner, der gleich zu Beginn mit einer narrativen, organisch fließenden Variation überzeugte und seine Gefühle für Aurora jederzeit glaubhaft machte. Die tanzte nun wie unter dem edlen Schleier des Schlafs -– welch eine Wandlung – auf der Spitze balancierte Arabesken. Das weibliche Corps de ballet der Nymphen war hier rechtzeitig wieder in Form.

In dieser zweiten und dritten Vorstellung zeigte das Staatsballett seine Stärke. Gibt es bessere Argumente für die aufgefrischte Neuproduktion eines klassischen Meisterwerks? Die Zuschauer haben seit langem alle verfügbaren „Dornröschen““-Karten gekauft und dankten lang anhaltend mit Standing Ovations. Ivan Liskas Ziel war es, ein komprimiertes, auf Tanz konzentriertes, lebendiges „Dornröschen““ auf die Bühne zu stellen, keins von der Größe einer Wagner-Oper und somit keine historische Rekonstruktion à la St. Petersburg. Das hat er erreicht. Und indem er sich erstmals selbst der Aufgabe einer Neuinszenierung stellte, hat er nicht nur mutig auf die freistaatlichen Etatkürzungen reagiert, sondern auch, wie Staatsopernintendant Sir Peter Jonas ausdrücklich anerkannte, zur Einhaltung des Haushalts des Opernhauses insgesamt wesentlich beigetragen. Ein einziger Wermutstropfen nur: Seine Compagnie und er hätten größere öffentliche Anerkennung für ihre herausragende Leistung erfahren, wenn er bei der Premiere am ersten Tage den Kritikern sein neues „Dornröschen“ mit Lucia Lacarra oder Maria Eichwald vorgestellt hätte.

Kommentare

Noch keine Beiträge