Wie ein Peitschenschlag

Christian Spucks Adaption von Frank Wedekinds „Lulu“

Stuttgart, 05/12/2003

Wer ist hier wer, das wird nicht leicht verständlich. Aber es beginnt furios mit einem Solo Schigolchs (Eric Gauthier), das durch aggressive Dynamik in spannungsvollem Kontrast zu Schostakowitschs Eröffnungsmusik steht. Salonmusik setzt ein, Gräfin von Geschwitz (Bridget Breiner) schmeichelt Nina Simones „Wild is the Wind“ ins Mikrophon, und der Künstler Schwarz ist mehr auf Lulus Porträt als auf sie selbst fixiert. Er agiert aus der Reihe der Männer, die an vier Tischen hintereinander sitzen und in Lulus Leben Hauptrollen spielen. Alle begehren sie. Dr. Schöning und sein Sohn Alwa gehören dazu. Ein Teil des Staatsorchesters spielt als Combo auf einer Empore. Als das Spiel im Orchestergraben wieder einsetzt, übernehmen auch die Herren des Corps de ballets Blicke und Begierde nach Lulu. Die tanzt und liebt bereits zwischen allen und alle, genießt die Wirkung ihrer sexuellen Anziehungskraft und blickt bei jedem Liebhaber kurz hinter sich, als wisse sie nicht, ob dieser wirklich sie meint.

Wer ist Lulu? Christian Spuck zwingt das Publikum, sie (Alicia Amatriain) zu studieren. Wenn sie in weißem Hemdchen und blonder Perücke tanzt, faszinieren das Tempo, mit dem der Choreograf sie in rasch wechselnde Pas de deux und Pas de trois stößt und herumschleudern lässt, wie auch die wache Energie und extreme Extension Amatriains. Sobald sie pausiert, posiert sie vor einer Kamera an der Bühnenkante, die ihr Porträt, live reproduziert oder in Stills, groß zwischen zwei Treppenaufgänge projiziert. Diese Leinwand zeigt, wie naiv und jung und schön Lulu ins Blaue lebt. Auf sie zeichnen die Männer ihre Projektionen, an denen sie vielleicht zerbrechen. Das wird fetztig und hochmusikalisch getanzt.

Spuck findet kraftvolle Formationen, eindringliche Bilder und packende Szenenfolgen. Bei einem lasziven Pas de deux Lulus mit Dr. Schöning (Ivan Gil Ortega) versteht er für den öffentlichen Akt den hohen Formalisierungsgrad zu nutzen, den die strukturgebende klassische Technik verleiht. Das Begehren der Gräfin von Geschwitz nach Lulu schafft weitere Spannung: Aus dem Duett der sich küssenden Frauen, neben dem Schöning zuerst solo tanzt, löst sich Lulu und treibt es bereits mit Rodrigo (Jason Reilly). Auf einmal ist die Bühne voller Lulus und Kavalieren, dynamisch tanzend, kopulierend, und ein Sprecher (Eric Gauthier) berichtet detailliert von den Londoner Frauenmorden Jack the Rippers. Zum hohen Drive, in dem die Choreographie stets auf das Wesentliche fokussiert ist, kommen beklemmend exakte Studien: Spucks Komposition der Szene erklärt besser als Worte, wie Lulus Mord an Schöning zu verstehen ist.

Aus Berlin flieht Lulu mit Alwa (Marijn Rademaker), nach Paris. Dort wird sie in den Reihen eleganter Männer sogleich wieder Zentrum des Interesses. Vaudeville-Musik und Nachrichten von Jack the Ripper überschneiden sich. Lulu, die sich dem gesellschaftlichen Treiben hingibt, will eigentlich nur Ruhe. Doch als ihr Mord publik wird, flieht sie nach London. Während Alwa mit ihr leben will und Schigolch sie zur Prostitution zwingt, zeigt Spuck mit einem brutalen Pas de deux, das Lulu nur noch ein Stück Fleisch ist. Sie zieht die Liebe eines Freiers der Liebe der verzweifelnden Gräfin von Geschwitz vor. Amatriain zeigt mit beklemmend mit verstörtem Gesicht, wie sich Lulu über sich selbst entsetzt. Und wieder gelingt Spuck und seinen Tänzern -– nach Alwas Ermordung durch einen Freier -– eine szenisch souverän gelöste, psychologisch faszinierende Studie, wenn Jack the Ripper (Jiri Jelinek) auch Lulu ermordet. Das Stück endet mit der Projektion eines übergroßen Auges in Farbe, blau, verfremdet, bis die Kamera das ganze Gesicht erfasst: Es ist Lulu, jung und schön wie zu Beginn. Vor einer grünen Wiese wehen ihre blonden Haare im Wind.

Kann man Spucks erstem Handlungsballett vorwerfen, dass er den Männern um Lulu nicht das ihren Wedekindschen Charakteren entsprechend unterschiedliche Bewegungmaterial zugewiesen hat und dass sich die Schauplätze Berlin, Paris und London wenig voneinander absetzen? Dazu hätte er sich wohl mehr Zeit nehmen und den durchgängigen Drive opfern müssen. Die hochpoetische Schlussszene verrät, dass er das wohl gekonnt hätte, aber nicht wollte. Er hat die Problematik von Identität und Projektion, von Täter oder Opfer und damit wesentliche Aspekte von Wedekinds „Monstretragödie“ imponierend kurz in zwei Mal vierzig packenden Minuten lebendig gemacht. Dass er Kompositionen Arnold Schönbergs und Alban Bergs für dramatisch bedrängende Passagen nutzte und mit alten Filmmusiken Schostakowitschs kombinierte, trug zur beklemmenden Dichte der Inszenierung bei. Und erst die Leistung, zu der er die phantastischen Stuttgarter Tänzer motiviert hat! An ihrer Spitze hat die Spanierin Alicia Amitriain alles gegeben. Eine durch und durch junge Produktion -– klug und in bestechendem Design! Wenn das nicht eine neue Sternstunde des Stuttgarter Balletts war, dann doch ein überraschender, tief bewegender Abend!

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