Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Technisch mühelos tanzen sie beide, und nach der jeweils noch etwas nervösen, von großem Respekt geprägten Debütvorstellung auch sicher und mit beeindruckender Autorität. Mit dem Russen Mikhail Kaniskin und dem Polen Filip Barankiewicz hatten kurz vor Saisonende noch zwei neue „Schwanensee“-Prinzen Premiere, und inzwischen wundert sich hier niemand mehr, dass selbst die vierte und fünfte Besetzung der Rolle noch absolutes Topniveau haben - Stuttgarts männliche Solisten-Riege sucht ihresgleichen.
„Schwanensee“ allerdings gilt nicht unbedingt als reines Männerballett, nicht einmal der von Cranko. Mikhail Kaniskin ist der perfekte Kirov-Prinz - ein Siegfried für Danse-d'école-Puristen, ein Tänzer, dem die klare Linie über alles geht, dem die exakte und saubere Ausführung mehr am Herzen liegt als die Höhe des Sprungs oder ein großartiger Effekt. Dazu kommt das schöne, angemessene, aber nie übertrieben leidenschaftliche Spiel, das auch die St. Petersburger Herren auszeichnet und das, anders als beim spontaneren, direkten Filip Barankiewicz, die „Schwanensee“-Handlung zu einem fernen Ballettmärchen und zur hohen Kunst entrückt. Bei Barankiewicz sieht es nicht ganz so klar und rein aus, dafür wesentlich spektakulärer - nach einer ewig langen, rasend schnell zu Ende gebrachten Pirouette setzt er locker noch ein, zwei Drehsprünge drauf und landet strahlend sicher exakt mit dem Tusch. Niemand in Stuttgart (und höchstwahrscheinlich im weiteren Umkreis) springt so schöne Double Tours, seine außergewöhnliche Sprungkraft dürfte den großen, schlanken Polen bei seinem Japan-Gastspiel im Sommer auch international bekannt machen. Allein beim Partnern fehlt Barankiewicz noch ein klein wenig Sicherheit, nicht so sehr bei den Über-Kopf-Hebungen (die bei beiden Prinzen erstaunlich sicher aussehen), als vielmehr in den gehaltenen oder den Finger-Pirouetten; das allerdings dürfte reine Erfahrungssache sein.
Nicht ganz so spektakulär waren die beiden Schwanenprinzessinnen: Die große (und auf Spitze sogar für Barankiewicz zu große) Diana Martinez Morales, die schon im Winter ihr Debüt hatte, beherrscht als einzige Stuttgarter Odile wirklich die 32 Fouettés, am Anfang sogar mit doppelten Drehungen. Aber bei ihr wie bei Roberta Fernandes stellt sich die Frage, ob die schwarze Prinzessin ihren Siegfried wirklich so schlangenartig-verführerisch umgarnen muss, oder ob der Hauptakzent im dritten Akt nicht eher auf funkelnder, strahlender Brillanz liegen sollte. Die zwei, drei Quäntchen mangelnde Virtuosität (denn mehr sind es ganz bestimmt nicht) machen die beiden Spanierinnen durch ihr schönes Adagio-Tanzen in den weißen Akten wett - Martinez Morales mit wunderbaren Armen, Fernandes mit ihrer inneren Ruhe und einer faszinierenden, fast magischen Phrasierung. Bei den Debüts in den kleineren Rollen beeindruckte die sanfte und immer ein wenig melancholisch wirkende Sebnem Gülseker als Erste Bürgerin, außerdem der punktgenaue, intelligente Ivan Gil Ortega als Zauberer Rotbart. Katja Wünsche, Patricia Salgado und Magdalena Dziegielewska tanzten schöne Variationen im Pas de six im ersten Akt, die vier kleinen Schwäne waren nichts weniger als perfekt und das Schwanen-Corps nach drei, vier Aufführungen von staunenswerter Homogenität.
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