DANCE 2004: „Traumtext“

Helga Pogatschar und Cesc Gelabert mit einer neuen Tanzoper

München, 07/11/2004

Bei der diesjährigen Tanzbiennale hat es unter anderem begründete und unbegründete Publikumserfolge („Mamootot“ von Ohad Naharins Batsheva Dance Company und „Joe“ von der Company der Foundation J. P. Perrault) gegeben, Exotisches („Ma“ von der Akram Khan Company), sympathisch Kauziges („Chucks Zimmer“ mit Wondratschek und Julien Hamilton), Tanztheaterphantasie (Michael Laubs „H.C. Anderson Project“), experimentell Privates (Antony Rizzis „Just die“), Reinfälle („Bare Naked Souls“) und Ausfälle (Louise Lecavalier wegen Krankheit). Am wichtigsten aber war wohl die Uraufführung von Heiner Müllers „Traumtext“ aus dem Jahr 1995 als Tanzoper von Helga Pogatschar und Cesc Gelabert in der Muffathalle. Hier eine Schnellkritik, denn am heutigen Sonntagabend ist das Stück – hoffentlich nur vorläufig! – zum letzten Mal zu sehen.

„Traumtext“ als Tanzoper, das beginnt mit bewegten Bildern (Jörg Staeger) aus der DDR-Vergangenheit und der Verfremdung eines Heißa-Liedes jugendlicher Pioniere und wird zum Horror, zur Ekstase der Not im percussiven Inferno, exzessiv getanzt von einem Solotänzer in völliger Nüchternheit. Der über dreißigköpfige Chor ist mit wechselnden Formationen integriert, mit seinem farbigen Klangvolumen die dunkle Verzweiflung des Textes verdichtend. Nahtlos sind die Übergänge von Sprache, Gesang und abstraktem, doch genauer als jede naturalistische Bewegung treffendem Tanz. Die Repetitionen intensivieren Müllers „Traumtext“ mehr und mehr. Der spanische Tänzer Cesc Gelabert – er hat sich im Rahmen des Festivals schon einige Tage vorher in „Glimpse“ als Meister der Bewusstheit eines kontinuierlichen Bewegungsstroms erwiesen – weiß zu allen Tonkaskaden, die vom Computer generiert sind, den Seelenzustand des ausweglos Herumgehenden zu offenbaren. Mehr noch: Er löst sie in der von Frieder Weiß entwickelten und eingerichteten interaktiven Klanginstallation per MSP-System selbst aus und reagiert improvisierend auf die von ihm ausgelösten Klänge – nie manieriert, stets souverän Maß haltend. Hier, in dieser Uraufführung, manifestiert sich das Motto von DANCE 2004 eindrucksvoll: „Allianzen – Differenzen“. Welch eine Musik aus dem Geist der Sprache, weitergeführt durch einen großartig gesammelten Tänzer!

Bühne und Licht von Marc Rohweder zeigen ein diagonal auf das weiße Quadrat der Spielfläche hingeleuchtetes Trapezfeld, in dem er sich bewegt. In „Traumtext“ heißt es: „Ich gehe (...) einen schmalen Betonstreifen ohne Geländer am Rand eines riesigen Wasserbeckens entlang, rechts oder links von mir, je nach der Richtung meines Rundgangs (...) eine unersteigbar hohe Wand ...“ Das Licht-Trapez, in dessen Fläche das Max-Signal-Processor-System Bewegungen in Sound umwandelt, löst sich durch einen Wechsel der Beleuchtung auf, als es in Müllers Text weiter heißt: „Die Nebelwand vor meinen Augen zerreißt plötzlich...“ Man hört wieder Worte (Horst Sachtleben als eindringlicher Sprecher im Off). Bald werden sie in völligem Dunkel gesprochen (war das Absicht?), schildern die Beobachtung eines Sterbenden, bis sein Körper „zur Ruhe kommt im Einverständnis mit den Gesetzen der Gravitation, das wir gewohnt sind Tod zu nennen“. Auf den Bühnenboden werden Videobilder des zu tiefen Cellotönen (klar präsent: Johanna Varner) und einer Soundcollage schwerelos schwebenden Körpers Cesc Gelaberts gebeamt. Mit dem wieder aufleuchtenden trapezoiden Feld aus Licht erfolgt die Rückkehr zur letzten dramatischen Sequenz im großen Kessel. Percussion (Alex Göggler, Philipp Jungk dezent und differenziert) treibt Gelaberts Solo zu schnellen, Arme und Beine isolierenden, scharf akzentuierten Bewegungen, bis diese weicher werden, in eine Pose münden und von da an die Musik mit ihrer imaginativen Kraft dominiert. Am Ende schließt der Chor einen Kreis um den auf dem Rücken liegenden Tänzer und trägt ihn weg. Er liegt nur noch hinten, wenn zu hohem Gesang sowie an Vibraphon und Becken entlang gezogenen Bögen und einem voll gestrichenen Cello der Text damit endet, dass „mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt“.

Das Zustandekommen dieser Produktion hat den Aufwand für DANCE 2004 gelohnt. Die junge Münchner Komponistin Helga Pogatschar hat Müllers „Traumtext“ sehr schöpferisch zu lesen gewusst, mit klugem Konzept eigenständig zu einer großen Tanzoper umgesetzt und mit ihrer innovativen Komposition und Kombination verschiedener Kunstformen für die zeitgemäße, lebendige Vergegenwärtigung einer literarischen Vorlage Maßstäbe gesetzt. Dabei hat sie nicht nur für den geschmeidigen Madrigalchor der Musikhochschule unter der Leitung von Andreas Herrmann und die Solisten (Christina Landshamer, Sopran; Andreas Hirtreiter, Tenor) spannende Farbgebungen gefunden, sondern auch für die Interaktivität mit dem Tanz interessantes Sampler-Material aus eigenen Computer-Kompositionen zusammengestellt. Die vorzüglich ausbalancierte Aufteilung der unterschiedlichen Elemente, mit denen sie an diesen letzten Text, den Heiner Müller vor seinem Tod schrieb, heranging, und die durchgängig hohe Konzentration und sparsame Bescheidung auf das Wesentliche ließen diese Annäherung liebevoll, wie eine kraftvolle weltliche Liturgie wirken.

Uraufführung am 06.11.2004

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