Der Mann mit Hut

Das Stuttgarter Ballett tanzt Strawinsky - dreimal pur, einmal geschüttelt

Stuttgart, 06/12/2004

Mit seiner herben, rhythmisch statt melodisch fundierten Musik geht dieser Ballettkomponist lange nicht so leicht ins Ohr wie Tschaikowsky oder auch Prokofiew. Aber „Strawinsky inspiriert“ – fast alle großen Choreografen des 20. Jahrhunderts. Unter diesem Titel versammelt der neue Ballettabend im Stuttgarter Opernhaus Musik aus Igor Strawinskys gesamter Schaffenszeit, von den wild-farbigen „Bildern aus dem heidnischen Russland“ im Jahr 1913 bis zur spröderen Zwölftontechnik der sechziger Jahre.

Die neueste (und die wenigste) Strawinsky-Musik hat Kevin O‛Day, der jüngste unter den vier Choreografen, für seine Uraufführung „Igor Poems“ verwendet. Zweimal erklingt Strawinskys 30 Sekunden langes Trompeten-Duo „Fanfare for a new Theatre“, der Rest des Stücks heißt „Slipstream“ und besteht aus computerbearbeiteten Blechbläser-Echos, die Komponist John King durch den Zuschauerraum hallen lässt. Ähnlich wie Christian Spuck beim letzten Stuttgarter Chopin-Abend kneift also auch O‛Day vor der Aufgabe, sich einem fertigen Musikstück zu stellen und hat sich lieber etwas maßschneidern lassen. Entsprechend sieht das Ergebnis aus – ein Patchwork-Ballett, nicht Fisch noch Fleisch, ohne jeden Spannungsbogen zusammengepuzzelt aus kurzen Soli und Gruppenszenen. Ob die vier Tänzerpaare in ihrer hip-ausgefransten Mode nun die Beine messerscharf in die Luft werfen oder ob sie als Beckettsche Clochard-Figuren über die Bühne schlurfen - „Igor Poems“ wird einfach kein Ganzes und ist lange nicht so gut wie O‛Days letzte Stücke für die Stuttgarter Kompanie. Übrig bleibt am Schluss in einem Lichtspot eine letzte traurige Spur von Igor: der dunkle Hut, den der alte Strawinsky so gerne trug.

George Balanchine, Jerome Robbins und Glen Tetley dagegen wurden durch Strawinskys Musik zu klar fokussierten, in sich runden Balletten inspiriert, zu Werken aus einem großen Gedanken: zu Klassikern. „Strawinsky Violinkonzert“ von Balanchine zelebriert reinsten, zeitlosen Tanz ohne das Stäubchen einer Handlung, leicht abgetönt im letzten Satz durch Einflüsse russischer Folklore und jazzige Cakewalk-Ahnungen. Die präzis abgezirkelte Attacke dieses Stils ist aber gar nicht so leicht, wie sie am Ende aussehen soll. Noch fehlt es vor allem den beiden Solistinnen an Prägnanz, noch wirkt es kurvig statt kantig – vor allem Sue Jin Kang hat zu viel „Schwanensee“ in den Armen. Friedemann Vogel dagegen muss das Tanzen unendlich vermisst haben in seiner einjährigen Verletzungspause, so energisch, ja triumphierend dreht und springt er in nie gefährdeter Brillanz. Begleitet werden die Solisten von einem Corps de ballet, das immerhin die mögliche Perfektionierung seiner Synchronität erahnen lässt. Dass die wertvollen, so unglaublich musikalischen Choreografien von Jerome Robbins zu einem festen Bestandteil des Stuttgarter Repertoires geworden sind, kann man gar nicht hoch genug schätzen. Zu Strawinskys Concerto in D für Streicher versammelt er in „The Cage“ spitzbeinige Amazonen unter einem Spinnennetz, ausgehungerte Tigerweibchen und Medusen, die ihre Fühler strecken wie Insekten. Wie eine frisch geschlüpfte Gottesanbeterin wird die ultra-biegsame Alicia Amatriain als Novizin in dieser Gruppe von ihren mörderischen Instinkten überrascht – und von der erotischen Anziehungskraft des Eindringlings Jason Reilly.

Einen tödlichen Ritus und die sich stets erneuernde Urgewalt der Natur schildert auch „Le Sacre du Printemps“, Glen Tetleys Gewittersturm von einem Ballett aus dem Jahr 1974. Mit glühenden Augen verzehrt sich Alexander Zaitsev, um durch sein Opfer den nächsten Frühling heraufzubeschwören, Bridget Breiner und Douglas Lee sind die wissenden Ur-Eltern des wilden Stammes. Noch fehlt vielen Tänzern hier die letzte, selbstlose Attacke, die atmende Spannung des Modern Dance, noch können manche das klassische Ideal nicht loslassen. Aber für einige Stuttgarter Tänzer wird der Abend zum Triumph – neben dem hochmusikalischen Zaitsev, aus dem eine Wucht und Verzweiflung explodieren, die man dem jungenhaften Russen nie zutraut, entdeckt vor allem Filip Barankiewicz eine ganz neue, wilde Seite an sich, sowohl in „Sacre“ wie im Kevin-O‛Day-Stück. Als unbarmherzige Königin in „The Cage“ und auch in „Sacre“ besticht Diana Martinez Morales durch die klaren und doch so ausdrucksstarken Linien ihrer makellosen Technik und ebenfalls durch große Musikalität. Jason Reilly bestätigt erneut seine Qualität als Balanchine-Tänzer.

Ein deutliches 3:1 für die Klassiker also – und eine klare Bestätigung für die Pflege des reichen Stuttgarter Repertoires. Im nächsten Jahr wären dann van Manen, Kylian oder Forsythe wieder dran, nachdem man die Hoffnung auf Béjart in Stuttgart wohl aufgeben muss. Vorher aber bietet die Spielzeit noch sechs weitere Uraufführungen.

Premiere am 3.12.2004

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