Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Dieses Stück ist für Tanz-Schauspieler gemacht, nicht für Balletttänzer. Für John Neumeiers düsteres Tanzdrama müssen die Tänzer ihre klassische Ausbildung vergessen, um sich völlig ins Schauspiel und in die Darstellung zu stürzen. Filip Barankiewicz, einer der Debütanten in sämtlichen fünf Hauptrollen, kann es nicht: als Blanches schwuler Verlobter Allan setzt er Virtuosität vor Ausdruck, tanzt Bewegungen nach, deren Inhalt oder Motivation er oft nicht verstanden hat. Die innere Zerrissenheit des zerbrechlichen Allan bleibt Barankiewicz fremd, der qualvoll unterdrückten Leidenschaft seines Geliebten – Marijn Rademakers Körper ist ein einziges Sehnen – hat er kaum etwas entgegenzusetzen. Douglas Lee dagegen, nach langer Verletzungspause endlich auf der Bühne zurück, ist so ein Tanz-Schauspieler. Er legt in die Rolle des ungeschickten Mitch, der sich um Blanche bemüht, fast zuviel Tragik (ohne allerdings zu übertreiben).
Als Vladimir Klos in der Urbesetzung Marcia Haydée nach diesem von so ungleichen Voraussetzungen ausgehenden Pas de deux in den Armen hielt, da hatten Mitch und Blanche für einen kurzen Moment jene tiefe Ruhe gefunden, nach der sich beide sehnten. Douglas Lees Mitch glaubt nicht einmal an dieses Glück, so zutiefst verunsichert ist er. Wie zwei Ertrinkende taumeln er und Blanche aneinander entlang und wieder auseinander – aus seiner Verzweiflung über Blanches Vergangenheit wird klar, dass sie die letzte Chance auf Erlösung aus seinem dumpfen Dasein war. Sarah Grether, die Nichte der unübertroffenen Urbesetzung Lisi Grether, tanzt Blanches Schwester Stella so, als hätte sie es direkt von ihrer Tante gelernt: mit denselben wegwerfenden Bewegungen, ein bisschen schlampig und ohne jede Erinnerung an ihre wohlerzogene Herkunft in den Tag hineinlebend – ein im Grunde ideales Rollenporträt.
Dem Tschechen Jiri Jelinek, der ihren brutalen Gatten Stanley Kowalski spielt, sind die hitzigen Jazzrhythmen der Südstaaten noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen; mit seiner klassisch-russischen Ausbildung muss er dazu allerdings auch einen weiteren Weg gehen als Jason Reilly, die Premierenbesetzung der Wiederaufnahme. Jelinek prägt die Rolle in einer ganz eigenen, weniger körperhaften Weise: bei ihm starrt das wilde Tier aus den durchdringenden, glühenden Augen. Wo Reilly als Stanley vor allem von Lust getrieben wurde, da ist es in Jelineks Interpretation der Zerstörungstrieb. Blanche bedroht seine Welt und deshalb tritt er sie mit der lächelnden, erbarmungslosen Grausamkeit des Stärkeren kaputt – mit einer beängstigenden, fast metaphysischen Lust am Zerstören des Schönen. Denn Bridget Breiners Blanche ist schön, von einer bleichen, ätherischen Kostbarkeit wie Porzellan, und diese Schönheit lässt sie bei aller Zickigkeit, allem Irrsinn reiner und unschuldiger wirken als ihre Rollenvorgängerinnen.
Wie immer spielt Breiner auch diesen Part mit größter Intensität und ohne jegliche Manierismen, genau wie Jelinek aber feiner und zurückgenommener in den Details. Für Marcia Haydée und Alessandra Ferri war Blanches Wahnsinn am Schluss eine Zuflucht, in Bridget Breiners Augen bleibt selbst im triumphalen Lächeln des Irrsinns noch immer ein Rest von entsetzlicher Angst zurück – den man vielleicht auch als Zurückhaltung auslegen kann, weil sie nicht völlig entrückt ist, sich nicht völlig vergisst. Wo Blanches drei Verehrer (Alexander Zaitsev, Jorge Nozal und Damiano Pettenella) immer noch zu wenig schmierig und penetrant sind, da wird das Corps de ballet vor allem im zweiten, dem New-Orleans-Teil immer besser (aus dem ersten scheint die somnambule Stille der Szenerie leider etwas entwichen).
Mit jedem erneuten Sehen legt Neumeiers Dramaturgie immer noch mehr Schichten frei, enthüllt weitere Leitmotive – die Totenkränze, das Abschiedswinken – und das tiefe Verständnis, mit dem der Hamburger Ballettchef auf Tennessee Williams‛ Drama und dessen Symbolik einging. „Endstation Sehnsucht“ ist zweifellos eines seiner besten Ballette, zwanzig Jahre alt und trotzdem ungleich moderner als „Tod in Venedig“; was das dichte Verweben der vielen Symbol-Stränge angeht, die selten bei Neumeier so nahtlose Einheit zwischen Dramaturgie und konkreter choreografischer Umsetzung, und die direkte, niemals die Handlung oder die Spannung hemmende Integration des Corps de ballets in die Erzählung, ist es wahrscheinlich sein Meisterwerk.
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