Ekstatisch energetisch feminin
Zeitgenössische Frauenpower bei „Tanz! Heilbronn“
Weil Michail Baryschnikow die großen Säle verabscheut, fand die Europapremiere seines Solo-Programms im mittelgroßen Heilbronner Stadttheater statt. In die Käthchen-Stadt war der ehemalige Startänzer des Kirov-Balletts und des ABT von Heilbronns findiger Tanzberaterin Madeline Ritter gelotst worden, sein einziges weiteres Europa-Gastspiel findet danach in London statt. Baryschnikows Solo-Tournee dient zur Finanzierung seines neuesten Projekts, eines privaten Tanz- und Kunstzentrums in New York (siehe tanznetz-News vom 22.12. 2002). In den USA hat der seit wenigen Tagen 56 Jahre alte Tänzer (dessen Name in Heilbronn in der amerikanischen Transkription Mikhail Baryshnikov geschrieben wird) sein Programm „Solos with Piano or not... An Evening of Music and Dance“ schon ausführlich gezeigt. Für Europa wurden nun zwei der ursprünglichen Choreografien durch ein weiteres Werk von Eliot Feld ersetzt, dem Chef der soeben vorläufig aufgelösten New Yorker Kompanie Ballet Tech. Pianist Pedja Muzijevic begleitete die Stücke des ersten Teils und spielte dazwischen Werke von Scarlatti, Debussy, Schönberg und Strauss.
Achtung, ein Karton: In Tere O‛Connors „Indoor Man“ bringt Baryschnikow ein Papp-Wohnzimmer auf den Schultern mit, samt Lichtschalter für die beiden Mini-Kandelaber. Seine Mimik und die Mühen mit dem komischen Gehäuse erinnern ein wenig an den traurigen Clown Petruschka. Lucinda Childs‛ etüdenhaftes, abstraktes Stück „Opus One“ zu Alban Bergs Klaviersonate op. 1 beruht zwar stark auf dem Vokabular des klassischen Balletts, lässt des Tänzers Arme aber immer wieder starr gestreckt wie Uhrzeiger pendeln. Ob die Stücke seine pantomimische Begabung herausstellten oder die nach wie vor faszinierende Geschmeidigkeit seiner Bewegungen: bei allen Abstrichen, die sein Alter einfordert, tanzt Baryschnikow noch immer unvergleichlich musikalisch, stilsicher, groß. Und doch hat er sich verändert – am deutlichsten war das in den zwei Stücken zu sehen, die Eliot Feld ihm so weise auf den Leib choreografiert hat, beide zu Blues- und Jazzsongs. „Yazoo“ setzt auf Baryschnikows komische Begabung: in Stoffhose und Unterhemd genießt ein Lebenskünstler aus den Südstaaten sein ganz privates Tänzchen zwischen Boogie, Blues und Moonwalk. Wie eine Jahrmarktsfigur wackelt er mit dem Kopf, mal Kind, mal Opa, kullert die Augen wie Buster Keaton und zuckt mit den Schultern wie Stan Laurel. Erstaunlich, wie perfekt sich der Russe Baryschnikow sich hier dem amerikanischen Bewegungsidiom anverwandelt hat.
„Mr. XYZ“ ist so etwas wie das heitere Nachspiel einer langen Theaterkarriere: Eine Vorstellung ist zu Ende, die Bühnenarbeiter räumen auf, da kommt ein Mr. Bojangles mit Sonnenbrille, Hut und Stock herein und zaubert ein paar Schritte in sein früheres Zuhause. Zum Pas de deux springt er auf das Rollbrett einer Schneiderpuppe und zischt mit ihr über die Bühne, er streut Blumen wie der Herzog in „Giselle“ und fährt die einstmals gesprungenen Diagonalen fröhlich auf einem Bürostuhl ab. Ein Tänzer zelebriert glücklich (und ein bisschen spleenig) seine Erinnerungen und scheint so versunken in ihnen, dass er den Bezug zur Außenwelt, zum Publikum gar nicht mehr braucht. Vielleicht muss man, um diese doch ziemlich eigenbrötlerischen Tanz-Monologe zu würdigen, einfach wissen, welche Karriere hinter „dem größten lebenden Tänzer“ liegt – all die spektakulären Sprünge, die perfekten Pirouetten, die unglaublichen Kunststücke. Jetzt fehlt alles, was irgendwie Pose oder ein zu lauter Effekt sein könnte. Baryschnikows Kunst liegt nun in der Begrenzung, im Minimalismus, er perfektioniert den Mythos des Eigenwilligen und Außenseiters, den er schon als Ballettstar und Ballettdirektor hatte.
Bei seinem letzten Gastspiel vor sieben Jahren, als er mit dem White Oak Dance Project in Ludwigsburg auftrat, da hatte er bei all der modernen Choreografie noch die Allure und Spannkraft des klassischen Tänzer, die stolze, aufrechte Haltung der russischen Schule. Jetzt fehlt diese Aura, der Kopf ist meistens zu Boden gebeugt, der Blick geht fast immer nach innen, kein Glanz dringt mehr nach außen. Nicht einmal sein Lächeln scheint wirklich fürs Publikum bestimmt, als ließe er sich bei seinen kauzigen Verrichtungen nur noch widerwillig zuschauen. Nach jedem Solo verschluckte tiefes Dunkel den Tänzer wieder, der sich nie verbeugte; nur am Schluss gab es einen einzigen, langen Vorhang, und Mischa kehrte nicht zurück.
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