Der Klassik-Glamour ist zurück
Erste Gedanken zur Bestellung von Alessandra Ferri als neue Ballettchefin des Wiener Staatsballetts ab Herbst 2025
Wem das Kartenglück hold war, der konnte sich in der vergangenen Woche einer einmaligen Begegnung mit choreografischen Schlüsselwerken des 19. und 20. Jahrhunderts hingeben, die sowohl die Traditionslinien als auch die Brüche und ästhetischen Kontraste im russischen Ballett auf eine höchst lebendige Weise zum Erlebnis machten. Tanzschöpfungen von Marius Petipa, der fünfzig Jahre das Petersburger Ballett, gestützt auf die besten Traditionen der italienischen und französischen Schule, zu Gipfelleistungen führte, von Waslaw Nijinski und Michail Fokine, die am Mariisnky ihre Laufbahn begannen um dann bei Diaghilews Balletts Russe in Paris ein neues Kapitel Tanzgeschichte zu schreiben, bis zu George Balanchine, der in Petersburg studierte, standen auf dem Programm. Mit einer inhaltlich klug konzipierten und ausgefeilt präsentierten Gala Soiree eröffnete das weltberühmte Kirov Ballett sein Gastspiel in der Deutschen Oper Berlin.
Der Auftakt ein Paukenschlag: „Le Sacre du Printemps“ in der Choreografie von Waslaw Nijinski. Seit einem Jahr befindet sich die von Millicent Hodson 1987 rekonstruierte Fassung im Repertoire. Durch diese Interpretation des Kirov Ballett begreift man schlagartig, mit welcher künstlerischen Sprengkraft Waslaw Nijinski (und Igor Strawinsky) 1913 in Paris die Türen zur Moderne geöffnet hat. „Das Frühlingsopfer“, Szenen aus dem heidnischen Russland in den Dekorationen von Nikolaus Roehrich. Nijinski prägte hier eine dem klassischen Ballett entgegengesetzte Bewegungssprache mit einwärts geführten Füßen für ein Ritual, das Gruppen von Männern und Frauen kontrapunktisch aus der Strenge der Bewegungslosigkeit in rhythmisch kompliziertem Stampfen, Gehen, Drehen, Fallen, Laufen zu hoher Expressivität führt. In tiefer Ruhe erstarrt steht die Auserwählte regungslos von um sie rotierenden Mädchenkreisen unbeeindruckt. Erst als das Opfer von Männern in Bärenfellen bedrängt wird, beginnen ihr die Knie zu zittern, ihr Oberkörper fällt nach vorn, eruptiv springt sie wieder und wieder am Platz in die Höhe. Auf dem Höhepunkt der Ekstase legt sich das Mädchen bewusst auf die Erde, die Männer heben sie gegen den Himmel. Ein Ritual ohne wirkliches Opfer, episches Tanztheater! Zeitgleich arbeitete Michail Fokine, noch ganz dem Ideal des 19. Jahrhunderts verhaftet, für die Ballets Russes in Paris. Noch in St. Petersburg kreierte er 1905 für Anna Pawlowa das Poem „Der sterbende Schwan“; in Berlin berührend interpretiert von Uljana Lopatkina. 1911 feierte Waslaw Nijinsky in Fokins romantischen Traum-Duett „Le Spectre de la Rose“ mit gewagten Fenstersprüngen Triumphe; in Berlin katapultierte sich Igor Kolb in die Herzen der Zuschauer. Ein Raunen ging durchs Parkett als der junge Anton Korsakow gleichsam in der Luft zu stehen schien und in seiner „Arlekinade“-Variation als Sprungwunder gefeiert wurde; als Partner hat er dagegen noch einige Defizite. Die wirklich hohe Schule des klassischen Paartanzes zelebrierten sowohl Wiktoria Terioschkina und Leonid Sarafanow in Petipas berühmtem Bravourstück „Le Corsaire“ (1880) durch hingebungsvolle Perfektion sowie Olisia Nowikowa und Andrian Fadejew im „Tschaikowski Pas de deux“ (1960) von George Balanchine. Welch ausdrucksstarker Tanzdialog voller Musikalität, Liebreiz, Virtuosität gepaart mit Zartheit! Eine bewusste Zäsur in dieser exzellenten Solistenparade (Absolventen der berühmten Waganowa Ballettakademie St. Petersburg, aus Kiew, Ufa, alle sind Preisträger der wichtigsten internationalen Ballettwettbewerbe) setzten die Gäste von der Newa mit dem 1998 uraufgeführten „Middle Duet“. Alexej Ratmanski, Ballettdirektor des Moskauer Bolschoi, choreografierte diese Szenen einer Ehe in neoklassischer Strenge; zwei Menschen wie aneinander gefesselt in ewigen Ausbruchversuchen bis zur Totalerschöpfung. Tänzerische Magie, exzellente Körperbeherrschung: Bravos für die charismatische Daria Pawlenko und Andrei Merkurjew. Keine Frage, dass diese beiden die neuen zeitgenössischen Körpersprachen von Forsythe & Co tanzend verstehen und wir beim nächsten Gastspiel hoffentlich auch in dieses Repertoire einen Einblick erhalten. Dass die klassische danse d´ècole die profunde Basis für ein Spitzenensemble wie dieses bleibt, unterstrich das Ensemble in Harald Landers bezaubernd impressionistischen „Etudes“ (1948, seit 2003 im Repertoire). Nur ein Spitzenensemble kann dieses augenzwinkernde Crescendo vom Plié an der Stange über die Sprünge und Drehungen in den Diagonalen und dem Pas de trois à la Sylphide, kongenial getanzt von Alina Somova, Anton Korsakow und Andrian Fadejew, mit dieser überwältigenden Souveränität, Musikalität und Grandezza interpretieren.
Sieht man einmal von den 32 homogenen Schwänen und Uljana Lopatkina in der Paraderolle der Odette/Odile ab, so gibt es kaum einen Grund heute einen „Schwanensee“ von Petipa/Iwanow in der altbackenen Inszenierung von Konstantin Sergejew zu präsentieren. Von dessen oberflächlicher Bearbeitung der Choreografie aus dem Jahre 1950 sollte sich das Kirov endlich verabschieden. Sie degradiert Tschaikowskys Meisterwerk zu einem undramatischen Ausstattungsschinken und mit Ausnahme des II. weißen Aktes alle Tänzer, Solisten wie Corps de ballet, zu en face agierenden Statisten - von Rolleninterpretation und Ensemblegeist keine Spur. Hier helfen auch nicht die Originaldekorationen, die Kostümpracht und die höchst einfühlsame musikalische Interpretation durch das Orchester des Mariinsky unter der Leitung von Alexander Polianitschko. Ärgerlich, weil ein ästhetischer Unterschied wie Tag und Nacht zu dem gleichfalls zum goldenen Fonds zählenden „Don Quixote“ (Uraufführung 1902 Mariinsky Theater, Choreografie von Alexander Gorski nach Petipa).
Nur eine vom Ensemblegeist beseelte Kompannie mit technischer Bravour, glaubhafter Spielfreude und elektrisierender Lust am Tanz vermag heute dem handlungsarmen, vier Akte lang den Tanz feiernden Grand Ballet „Don Quixote“ um die Liebesnöte von Kitri und Basil zum Sieg zu verhelfen. Ein tänzerisches Feuerwerk aus effektvoll lebendigem Charaktertanz, Pantomime und Spitzentanz auf höchstem Niveau, dem Don Quixote in Amors Traumreich sein Schwert zu Füßen legt. Die begnadeten jungen Solisten Diana Wischnjowa als Kitri, Leonid Sarafanow als Basil und Alina Somowa als Waldnymphe begeisterten in jeder Hinsicht als Weltklassetänzer! Beim Gastspiel im Juli 2000 staunte ich über das stark verjüngte Topensemble (mit 230 Tänzerinnen und Tänzern seit 1995 unter der Direktion des ehemaligen Ersten Solotänzers Machar Wasiew die größte klassische Kompanie der Welt). Nach vier Jahren verstärkt sich dieser Eindruck. Perfektion gepaart mit Natürlichkeit und Hingabe an den Tanz, die Rolle und das Publikum. Ein imposantes Aufgebot charismatischer Tänzerinnen und Tänzer belebt die Tradition. Jung, intensiv im Spiel, mit einer tänzerischen Ausdrucksskala, die Können (mit Ausnahme des „Schwanensee“) nie selbstverliebt oder manieriert zelebriert, zeigt sich das Kirov als lebendige Heimstatt des klassischen Balletts. Das Kirov ist ein Phänomen sich stets verjüngender Ausdruckskraft, die Tradition transparent werden lässt.
Montag, 29. November „Don Quixote“ Dienstag, 30.November „Schwanensee“ (Deutsche Oper Berlin, jeweils 19.30 Uhr) und 22. – 29. Dezember 2004 Festspielhaus Baden-Baden
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