„Du bist nicht nur Fleisch“
Zu Gast in Leverkusen: Alvis Hermanis inszeniert Mikhail Baryshnikov
Tänzer sind zählebige Geschöpfe. Mathilde Kschessinskaja wurde fast hundert, Merce Cunningham hat auch bereits die achtzig hinter sich gelassen, Martha Graham hatte ihren letzten Tänzerauftritt mit 74. Und Alicia Alonso und Maja Plissetzkaja – haben sie wirklich schon aufgehört zu tanzen? Marcia Haydée jedenfalls geistert auch als demnächst Siebenundsechzigjährige noch immer als Isolde oder Callas auf den Bühnen zwischen Rio de Janeiro und Tokio herum (und es würde mich nicht wundern, wenn sie demnächst als Kastschej in ihrer angekündigten Neuproduktion des „Feuervogel“ beim Chilenischen Nationalballett auftritt).
Gemessen an ihnen ist Mikhail Baryshnikov, der gerade seinen 56. Geburtstag gefeiert hat, ein junger Spund! Wenn ich ihn allerdings mit Kollegen vergleiche, die ich noch als Senioren auf der Bühne erlebt habe – ich denke an Charles Weidman (den ehemaligen Partner von Doris Humphrey), Harald Kreutzberg oder Alexander von Swaine) – kommt er mir tatsächlich wie ein – na ja, nicht gerade wie der Youngster vor, als den ich ihn zum ersten Mal beim Moskauer Tänzerwettbewerb von 1973 sah. Wie er jetzt beim Auftakt seines überaus kurz bemessenen Europa-Gastspiels in Heilbronn erschien (er hat dann nur noch eine kurze Saison in London und kehrt danach gleich wieder nach Amerika zurück), wirkte er jedenfalls nicht wie ein Tänzer, der seine Bühnenkarriere über sein Verfallsdatum hinaus fortsetzt. Zwar nicht mehr der Strahlemann, als der er sich als Basilio in „Don Q“ unvergesslich meinem Gedächtnis eingeprägt hat, bewunderte ich ihn in Heilbronn nicht nur ob seiner unermüdlichen Ausdauer, mit der er sein Anderthalb-Stunden-Programm durchstand, sondern nicht zuletzt auch ob seiner makellosen Technik, die er in seinen fünf Solopiecen der vier Choreografen Cesc Gelabert, Tere O'Connor, Lucinda Childs und Eliot Feld demonstrierte. Und natürlich ob seiner exquisiten Musikalität, die er mit der Muttermilch eingesogen zu haben scheint.
Dazu befähigt ihn seine exzellente akademische Ausbildung in Leningrad, auf Grund deren er eben nicht nur im klassischen Fach brilliert und noch immer durch seine lupenreine Linienführung und die automatische Proportionierung seiner Motionen begeistert – gleich ob er nun die kanonischen Bewegungen der Danse d‘école, des zeitgenössischen Vokabulars oder pantomimische Passagen ausführt. Er ist geradezu ein Paradebeispiel des Allround-Tänzers, der alles kann. Und der genau weiß, was er sich heute noch zumuten kann. Und damit genau das Gegenbeispiel zu Nurejew, der in seinen letzten Tänzerauftritten als Fünfzigjähriger mit seinen Freunden nur noch das Zerrbild seiner einstigen Faszination als virtuoser Tänzer lieferte.
Wenn Baryshnikov sein Heilbronner Programm „Solos with Piano or Not“ betitelte, so war es entschieden der zweite Teil des „Not“ – also die beiden zu plärrenden Honky-Tonk-Klängen aus dem Lautsprecher präsentierten Stücke von Eliot Feld, „Yazoo“ und „Mr. XYZ“, die das Publikum zu Ovationen hinrissen – als Beweis seiner Verwandlung aus einem russischen Tänzer der St. Petersburger Sonderklasse in einen amerikanischen Entertainer der Charlie-Chaplin- und Fred-Astaire-Vaudeville-Tradition. Der freilich nie ganz seine Herkunft aus dem Ballett vergessen lässt – so, wenn er seinen Spazierstock zu Apollos Laute umfunktioniert, die Lilien auf dem Weg zum Grabe Giselles verstreut oder als Verlorener Sohn wie ein Clochard nach Hause torkelt. Und so erinnerte er mit dieser Metamorphose an seinen großen russischen Landsmann George Balanchine, der wie er, aus der St. Petersburger Schule hervorgegangen, zu einem Showbusiness-versierten Amerikaner höchster Qualität geworden ist.
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