Neckarwestheim am Eckensee

Das Stuttgarter Ballett mit „Strawinsky inspiriert“

oe
Stuttgart, 03/12/2004

Wahrlich ein Tag voller Stress! Zuerst also das kj über den gestrigen Ismael-Ivo-Abend. Kaum ist der Text fertig, melden gleich zwei E-mails den Tod von Alicia Markova. Also rasch noch einen Nachruf verfasst. Und doch fällt es mir schwer, mich an diesem Vormittag zu konzentrieren. Denn immer wieder schweifen die Gedanken nach Leipzig, wo in diesen Stunden im Opernhaus die Trauerfeier für Uwe Scholz stattfindet. Da hätte ich unbedingt dabei sein sollen (bilde ich mir ein) und wollen. Wäre auch zu schaffen gewesen – aber nur per Flug, und wer soll den bezahlen? Denn abends ist ja schon wieder in Stuttgart Premiere. Übrigens ist sie Uwe Scholz gewidmet – wie auch am gleichen Abend die Vorstellung des Dresdner Balletts mit Scholzens „Rot und Schwarz“.

Stuttgart tritt unter dem Generaltitel „Strawinsky inspiriert“ an. Und das ist kein Etikettenschwindel, sondern die Wahrheit – nichts als die Wahrheit! Die Kompanie rechtfertig ihn durch ihren Full-Power-Einsatz. Ein Vier-Ballette-Programm von gut dreistündiger Dauer: George Balanchines „Strawinsky Violinkonzert“, von Jerome Robbins „The Cage“, als Uraufführung Kevin O'Days „Igor Poems“ zu einer Strawinsky-inspirierten Auftragskomposition von John King, und als ob das noch nicht genug wäre, Glen Tetley mit der Wiederaufnahme seines „Sacre du printemps“.

Und alle scheinen sich des Ausnahmerangs dieser Vorstellung bewusst zu sein. Auch das Staatsorchester unter der Leitung von James Tuggle, mit Wolf Dieter Streicher als Soloviolinist. Es ist einer jener beglückenden Stuttgarter Abende, die wie ein Pingpong-Spiel zwischen Bühne und Zuschauerraum funktionieren. Die oben inspirieren die unten, und die geben‘s denen verstärkt zurück. Und so stieben die Funken hin und her und elektrisieren alle gleichermaßen. Und beglückt feiert das Publikum das Comeback des allzu lange vermissten Friedemann Vogel (hat er sich die ganze lange Zeit seiner Abwesenheit die Haare nicht schneiden lassen – vielleicht angesteckt von Jason Reilly und Eric Gauthier)? Und am Schluss dann mit grandseigneuraler Distinktion Sir Igor und Sir George, personalunifiziert als Sir Glen Tetley.

Gleich das „Violinkonzert“ als Appetizer in reinstem Balanchine-Curaçao-Blau, mit den beiden Solopaaren Bridget Breiner und Reilly, Sue Jin Kang (zurückgekehrt aus ihrer Heimat mit lianenhafter Geschmeidigkeit) und Friedemann Strahleboy, dazu die zweimal vier Paare, von Karin von Aroldingen geradezu computersynchronisiert programmiert, von den Merry Twenties mit ansteckender Fröhlichkeit getanzt. Dann also „The Cage“, die reinste feministische Giftspritze – sozusagen Robbins' Anti-„Apollo“, mit der Klientele der zwölf Alice-Schwarzer-Amazonen, Diana Martinez Morales als Mephistophela und Alicia Amatriain mit geradezu sadistischer Lust als jüngste Killer-Biene dieser staccatierenden Folter-Schwadron nebst Damiano Pettenella und Reilly, die – was bleibt ihnen auch anderes übrig – ihrer Opferrolle wenigstens masochistische Reize abzugewinnen versuchen.

Die Uraufführung der „Igor Poems“ mit den üblichen King-Noise-Beschallungen gibt sich diesmal Strawinsky-generiert und für acht Blechbläser arrangiert (ein Postludium zu Strawinskys Concerto for Piano and Wind Instruments?). Von O'Day für vier plus vier Tänzer und Tänzerinnen choreografisch gesampelt, von denen die Männer, kostümiert von Liz Vandal, in ihren weiten Mänteln und mit ihren Hüten wie Dirty Old Men aussehen (Filip Barankiewicz, Douglas Lee, Gauthier und Pettenella), lauter Schigolchs sozusagen, die als Exhibitionisten vier kleinen Mädchen auflauern: Kang, Elizabeth Mason, Elena Tentschikowa und Katja Wünsche als Dienstleistungs-Lolitas (oder handelt es sich um ein Quartett von Lulutas?).

Und dann also der Schluss-Knüller des Tetleyschen „Sacre“, der in den dreißig Jahren seit seiner Entstehung ebenso wenig Staub angesetzt hat wie Strawinskys dreimal so alte Partitur. Im Gegenteil! Der stiebt über die Bühne wie ein mit voller Power arbeitendes Atomkraftwerk, gezündet von dem dann buchstäblich in die Luft gehenden Alexander Zaitsev, assistiert von Breiner und Lee, mit Extra-Schubkraft versehen von Roberta Fernandes und Barankiewicz, Morales und Ivan Gil Ortega und den neun Elementar-Beschleunigungspaaren, die aus dem Stuttgarter Opernhaus auch ohne behördliche Betriebsgenehmigung eine tänzerische Filiale von Neckarwestheim machen.

Übrigens gibt es ein inoffizielles Buch zu diesem Abend: Hellmut Kirchmeyer, „Kommentiertes Verzeichnis der Werke & Werkausgaben Igor Strawinyks bis 1971“, erschienen im Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (in Kommission bei S. Hirzel Stuttgart/Leipzig, 602 Seiten, ISBN 3-7776-1156-5). Für alle musikliebenden Freunde des Balletts ein fulminantes Weihnachtsgeschenk – und eine so exemplarische Publikation, dass ich mich noch in einem gesonderten kj damit befassen will.

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