Ein Traum aus rosa Zucker
Das Mariinsky-Ballett mit „Nussknacker“ im Festspielhaus Baden-Baden
Wo gibt es das noch zu sehen: eine siebzig Jahre alte Theaterinszenierung. Neben der neuen, modernen Version des „Nussknackers“ von Kirill Simonov behält das Mariinsky-Ballett wohlweislich Wassilij Wainonens alte Fassung aus dem Jahr 1934 im Repertoire. Sie gastierte über Weihnachten mit drei Aufführungen im Baden-Badener Festspielhaus, mit all den schrulligen Verwandten der Kinder Mascha und Franz, mit Mäusen und Zinnsoldaten, einem riesigen Weihnachtsbaum, mit tanzenden Schneeflocken im verschneiten Märchenwald. Nach der bühnenhohen Farborgie in Blassrosa und Beige für das letzte Bild in Konfitürenburg weiß man den Purismus von Balanchines himmelblauem Hintergrund dann erst richtig zu schätzen. Andererseits: hier können Eltern ihren Sprösslingen zeigen, mit welch liebevoller Kunstfertigkeit man im letzten Jahrhundert gemalte Theater-Illusionen herstellte, als noch nicht alle Stücke in den tristen Wohnzimmern von Anna Viebrock gespielt wurden.
Wie schon im „Schwanensee“ blieb einem beim überwältigenden Corps de ballet des Mariinsky einfach der Mund offen stehen. Wie von Zauberhand wehen die 24 Schneeflocken beim Walzer am Ende des zweiten Aktes von ihren ebenmäßigen Linien in einen perfekten Kreis und werden dann zu einem Schneekristall, bei ihren kollektiven Drehungen zeigen 24 Beine immer exakt in die gleiche Richtung. Die Perfektion der Gruppe ist atemberaubend, und das zu einem ziemlich schwungvollen Tempo, das Tschaikowskys schönste Ballettpartitur erst richtig zur Geltung bringt. Mit seinem wunderbaren Orchester dürfte das Kirov die einzig Balletttruppe der Welt sein, bei deren Aufführungen man auch noch mit einem Hörerplatz selig wird. Als Mascha, das träumende junge Mädchen (das sonst auch Klara heißt), traf Irina Golub genau die Balance zwischen Kind und Frau, war weder zu albern noch zu erwachsen. Tänzerisch neigt sie ein wenig mehr zur Soubrette als zum lyrischen Fach, aber ihre Pas de deux mit dem zum Prinzen verwandelten Nussknacker waren fließend und voll jugendlichen Schwungs (wobei die gelöste Romantik des Pas de deux in den verschneiten Wald hinaus erstaunlich modern für das Jahr 1934 wirkt). Dieser junge Prinz war die interessante Entdeckung des altmodischen Abends: der mit jeder Menge Vorschusslorbeeren versehene Leonid Sarafanov.
Der 22 Jahre alt Ukrainer wird als neuer männlicher Star beim Kirov-Ballett hoch gehandelt, hatte bei der letzten Gala in Baden-Baden aber im „Don Quijote“-Pas-de-deux einen durchaus gemischten Eindruck hinterlassen. Als „Nussknacker“-Prinz präsentiert er sich jetzt tadellos, selbst nach strengen Kirov-Maßstäben. Sein Tanz ist durchweg fein und luftig, die Sprünge hoch und leicht, die Haltung stets nobel, Arme und Hände von feinstem Adel. Als Partner ist Sarafanov ein echter Kavalier, der seine Augen immer bei der Ballerina hat und sie strahlend begleitet. Mag er mit seinem etwas zu langen Oberkörper nicht ganz die perfekten Tänzerproportionen haben – das macht er durch seine elegante Linie und durch die charmante Offenheit seines Auftritts wett. Im Augenblick wirkt Sarafanov bei aller Selbstsicherheit noch etwas jungenhaft, fast kindlich, und man weiß nicht, wo es einmal hingehen wird: zur lyrischen Linie von Andrian Fadejew oder in die männlich-herbe Richtung Igor Zelenskys. Jedenfalls scheint es mit ihm und dem vor allem darstellerisch begabten Andrej Merkuriev doch nicht ganz so trostlos auszusehen bei den Herren des Mariinsky-Balletts.
Besuchte Aufführung: 27.12.2004
Link zum Festspielhaus Baden-Baden: www.festspielhaus.de
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