Perfekte Flocken
Der „Nussknacker“ des Mariinsky-Balletts
Die Krise des Handlungsballetts macht auch vor den Russen nicht halt. Beim traditionsreichen St. Petersburger Mariinsky-Ballett, wo die meisten der großen Ballettklassiker uraufgeführt wurden, sieht es bei neuen erzählenden Tanzstücken kein bisschen besser aus als in Stuttgart, München oder Berlin: Es fehlt an der Dramaturgie. Noch mehr als bei uns. Wieder brachte die berühmte Kompanie bei ihrem Gastspiel in Baden-Baden neben „Schwanensee“ & Co. eine Neuheit vom St. Petersburger Ballettfestival im Frühjahr mit – die allweihnachtliche Residenz im Festspielhaus ist ein Glücksfall für die (süd-)deutschen Tanzliebhaber, Baden-Baden sieht mehr vom Mariinsky-Ballett als London oder Paris.
„Das gläserne Herz“ beruft sich auf ein altes Ballettlibretto von Hugo von Hofmannsthal, das Alexander von Zemlinsky um 1900 teilweise vertonte, und erweist sich mit zweimal einer halben Stunde als recht kurzer Abendfüller – wahrscheinlich tauchte deshalb ganz spontan noch Balanchines „Apollo“ als Vorweg-Zugabe auf, getanzt in der kürzeren Version ohne Leto und den Aufstieg zum Parnass, weniger prägnant und stattdessen feiner ziseliert als gewohnt, was vielleicht am langsamen Dirigat von Boris Grusin lag. Alexander Sergeyev war der musikalisch tanzende, aber etwas neutrale Held, seine Musen Maria Shirinkina, Olesya Novikova und Yana Selina profilierten sich eher als wunderbar symmetrisches Trio (ihr Beinfächer sah perfekt aus) denn als einzelne, unterschiedliche Götter-Inspirationen.
Man kann im Nachhinein gut verstehen, warum Intendant Gustav Mahler damals „Das gläserne Herz“ nicht an seiner Wiener Hofoper aufführen wollte – zu abgehoben und jugendstil-mäßig entrückt liest sich das krause Libretto mit seiner Liebesgeschichte über vier Ecken. Anstatt sie zu entwirren oder eine ganz neue Handlung zu erfinden, greift Choreograf Kirill Simonov (er wurde den wenige Jahre alten, modernen „Nussknacker“ des Mariinsky-Balletts berühmt-berüchtigt) mehrere Motive heraus, kapriziert sich aber mit seiner Handlung auf die Entstehungszeit der Musik und schildert die historisch fundierte Dreiecksbeziehung zwischen Alma Schindler, Mahler und Zemlinsky.
Als männermordende, laszive Schönheit steht Alma hier zwischen dem älteren Zyniker Gustav und dem jungen, leidenschaftlichen Alexander, dessen Figur bei Simonov irgendwie alle Liebhaber Almas symbolisiert, denn im letzten Akt „ermordet“ er die berühmte Puppe, die sich Oskar Kokoschka als Ersatz für die echte Alma anfertigen ließ. Das titelgebende „gläserne Herz“, das bei Hofmannsthal aus unerwiderter Liebe zerbricht und in roten Scherben am Boden glimmt, wird hier unbekümmert ins Gegenteil, nämlich in Almas Kaltherzigkeit umgedeutet.
Als Gegenbild der glücklichen, erwiderten Liebe übernimmt Simonov ein idyllisches Gärtnerpaar aus Hofmannsthals Libretto, das hier zwar optisch zwischen Commedia dell’arte und Hippies angesiedelt ist, aber keinen Schritt anders tanzt als der Rest des Ensembles. Denn wie so viele heutige Choreografen kann auch Simonov nicht durch Tanz erzählen oder charakterisieren, sondern er skizziert einzelne Bilder nebeneinander hin, deren tieferen Zusammenhang man sich aus der Inhaltsangabe zusammenklauben muss.
Bis auf die grellbunten Kostüme des Corps de ballet (die Damen sehen manchmal wie Zirkuspferdchen aus) ist die Produktion erfreulich minimalistisch ausgestattet – Kordeln und schlanke Schießbögen schweben über den Köpfen, schmale Mondbarken mit Blumen deuten ein Elysium an, das Simonov bei Hofmannsthal gefunden hat und für einen Traum seines liebeskranken Zemlinsky missbraucht. Der tanzt hier wirklich wie auf Wolken, denn unter den wallenden Nebeln erscheint ein bühnenfüllender Flokati-Teppich, auf dem dann der komplette zweite Akt auf nackter Sohle oder halber Spitze getanzt wird (im ersten verzichteten weder die rassige Alma noch die Zirkuspferdchen auf den Spitzenschuh).
Die Choreografie weicht dezidiert von der runden, „schönen“ Armhaltung des klassischen Balletts ab, stattdessen wedeln und kreiseln die Tänzer unablässig mit den gestreckten Armen, manchmal verfallen sie auch unversehens in sekundenlanges, expressives Ringen und Schlingen der Arme ohne weitere Beteiligung des Körpers. Obwohl der Tanzstil sonst flüssig und auf eine eher sportliche Weise schwungvoll aussieht, entnervt spätestens im zweiten Akt die endlose Gleichheit der Bewegungen; der kaum strukturierte, fortwährende Bewegungsfluss erinnert an David Dawson, der ja vor drei Jahren beim Mariinsky-Ballett mit „Reverence“ zu Gast war.
Anders als bei Dawson wird bei Kirill Simonov aber ständig nach vorne zur Rampe getanzt, meist parallel nebeneinander, selbst in den Pas de deux sieht der Mann fast immer den Rücken seiner Partnerin. Nicht einmal das Corps de ballet (das als Landvolk oder himmlische Nymphen rein dekorative und keinerlei dramaturgische Funktion hat), bekommt Diagonalen oder schrägen Linien, endlos geht es in hübsch geometrisch versetzten, horizontalen Reihen frontal zum Publikum. Wie schade, dass Simonov so gar keinen Sinn für Dramatik hat, denn ohne die üblichen Krönchen und Tutus entpuppen sich die Mariinsky-Tänzer als sehr interessante Persönlichkeiten, vor allem Ekaterina Kondaurova als Alma, eine starke, elegante Amazone, und Islom Baimuradov als düsterer, ja fast fieser Gustav Mahler. Maxim Zyuzin dagegen bleibt als jugendlicher Held sehr blass. Statt auf die peniblen, aufwendigen Rekonstruktionen alter zaristischer Ballette, mit denen die Kompanie in den letzten Jahren Aufsehen erregte, setzt Mariinsky-Intendant Valery Gergiev im Augenblick lieber auf moderne Stücke und reiht seine Truppe damit in die allgemeine internationale Ballett-Beliebigkeit ein. So stilsicher das Mariinsky-Ballett seine ureigensten Klassiker tanzt, so rat- und wahllos erweist es sich bei der Auswahl moderner Choreografen. Dagegen und gegen Gergiev dürfte auch Yuri Fateyev, der neue Direktor der Ballettkompanie, nichts ausrichten können.
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