Noch nicht auf Hochglanz poliert
Wiederaufnahme von „Giselle“ in Stuttgart
So wie man vom New York City Ballet perfekten Balanchine erwartet und vom Londoner Royal Ballet perfekten Ashton, so will man in Stuttgart den besten Cranko sehen. Nach fünf Jahren steht jetzt „Der Widerspenstigen Zähmung“, das letzte seiner drei berühmten Handlungsballette, wieder auf dem Spielplan. Mit all ihren schrulligen Gestalten ist die virtuose Geschlechterkampf-Komödie vielleicht der beste Beweis für die Erzähl- und Charakterisierungskunst des großen Stuttgarter Choreografen, der Shakespeares genialen Wortwitz mit weisem, liebevollem Humor in Tanz umgesetzt hat. Nach den Psychodramen „Lulu“ und „Endstation Sehnsucht“, nach der abstrakten Rasanz des „Tanzsichten“-Abends mussten Reid Andersons Nachwuchsstars also nun beweisen, dass sie auch witzig sein können.
Und wie sie können – die junge Kompanie fügt ihrem Spektrum eine weitere wichtige Facette hinzu, die „Zähmung“ ist auf Hochglanz poliert. Das fängt beim Staatsorchester unter James Tuggle an, das Kurt-Heinz Stolzes Scarlatti-Bearbeitung offensichtlich lange genug nicht vor Augen hatte, um sie zur Abwechslung mal wieder frisch, geradezu übermütig zu spielen. Das geht beim Corps de ballet weiter, das bis in die Fingerspitzen motiviert tanzt (naja, bis auf diesen etwas wackligen Pas de six bei Biancas Hochzeit). All die kleinen Nebenrollen, Petruchios Diener, der Wirt, der Pfarrer oder die herrlichen Freudenmädchen von Diana Martinez Morales und Sonia Santiago sind bis in letzte Detail ausgearbeitet, alle Pantomimen sitzen mit dieser typischen Cranko-Mischung aus Slapstick und liebevoller Ironie. Niemand übertreibt, auch nicht in den komischen Paraderollen von Biancas Freiern, wo Rolando d‛Alesio als schniefender Gremio falsch trillert oder Dimitri Magitov als Hortensio seine Laute so selbstverliebt wie ein Rockstar traktiert. Während Mikhail Kaniskin als strahlender Lucentio die Anflüge von empfindlicher Eitelkeit bei Biancas Auserwähltem mit ganz wunderbarer Selbstironie spielt, fehlt es seinem Tanz noch ein wenig an Lyrik, sowohl im Karnevals-Solo wie auch beim Tanzunterricht – Roland Vogel oder Tamas Detrich hatten die höfischen Tänze sehr viel subtiler ausziseliert und damit gleichzeitig Lucentio als feinen Menschen charakterisiert. Und es schmerzt, wie zickig Alicia Amatriain als Bianca die Pfänder ihrer drei Freier auf den Boden knallt – als hätte sie die Menschlichkeit, das lächelnde Verständnis nicht verinnerlicht, mit dem Cranko all seine Figuren trotz ihrer Macken herzlich liebt.
Petruchio und Katharina, die beiden Hauptrollen, sind mit genau dem wunderbaren Paar besetzt, das dieses Ballett braucht: Mit endlosen Drehungen und sensationell hohen Sprüngen sorgt Filip Barankiewicz für heruntergefallene Kinnladen und Jubelstürme – natürlich kann er auch die berühmten dreifachen Tours en l‛air in Petruchios Hochzeits-Solo wie einst Richard Cragun. Was ihm bei all der brillanten Technik noch ein wenig fehlt, ist das schamloses Draufgängertum, das Verspielte, die muskelprunkende Sinnlichkeit – wo bei Cragun „MANN“ in Großbuchstaben draufstand, wird hier ein junger Springinsfeld aus dem Renaissance-Kostüm geschält. Barankiewicz spielt die Rolle romantischer, er legt den Schwerpunkt auf den traumhaft gepartnerten Schluss-Pas-de-deux, wo Cranko die aufrichtige Liebe zwischen Petruchio und Katharina zeigt und so all die Thesen von Unterwürfigkeit und Weibes-Gehorsam aufs Schönste wieder relativiert. Sue Jin Kang versucht gar nicht erst, Marcia Haydée nachzuahmen, sondern sie hat ihren ganz eigenen Witz, sie schlenkert, schlägert, prügelt und faucht umwerfend komisch. Die Koreanerin, die früher gerne zum Manierismus und zur ätherischen Künstlichkeit neigte, tanzt das kratzbürstige Käthchen völlig natürlich und spontan, mit einer übermütigen, sorglosen Souveränität: eine Tänzerin auf dem Höhepunkt ihres Könnens, und eine vollendete Cranko-Ballerina. Wie beseeligt einen auch dieser Abend in die Nacht hinaus entlässt – das Gefühl, die große Tradition des Stuttgarter Balletts in den besten Händen zu wissen, ist fast noch schöner.
Premiere der Wiederaufnahme: 29.5.2004
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