Mit einem Vogel durch den Sommer

Rapider Solistenschwund beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 24/06/2002

Da war es nur noch einer: mit Tamas Detrichs Ankündigung, nach dieser Spielzeit seine Tänzerkarriere zu beenden, kam dem Stuttgarter Ballett der dritte Solist in einer Saison abhanden. Übrig blieb nach dem Abschied von Vladimir Malakhov und Robert Tewsley nur noch Roland Vogel; in Reid Andersons junger Kompanie standen zur nächsten Saison also jede Menge Beförderungen an. Nun hat Malakhov in dieser Spielzeit kaum noch in Stuttgart getanzt, und auch Tamas Detrich, der glücklicherweise sein Stilbewusstsein und sein hohes Berufsethos als Ballettmeister an die jungen Stuttgarter Tänzer weitergeben wird, stand nur noch selten auf der Bühne. Faktisch wurden die zahlreichen Hauptrollen also bereits munter aus der jüngeren Riege besetzt, sogar im „American Masters“-Abend war der viel beschäftigte Robert Tewsley sehr viel problemloser zu ersetzen als erwartet.

Über einen Mangel an tänzerischem Talent kann man sich derzeit in Stuttgart gewiss nicht beklagen, ganz im Gegenteil. Aber einen Solist vom Kaliber Tewsleys, ein Allroundtänzer, der als klassischer Prinz, als Cranko-Tänzer, in abstrakten wie in expressiven modernen Werken umjubelt war, ist derzeit nicht in Sicht. Noch nicht? Denn schließlich hatte auch der blonde Star, als er 1996 aus Kanada hierher kam, noch nicht das Weltformat, mit dem er das Stuttgarter Ballett jetzt verließ.

Nach Tewsley steht gleich der nächste schöne Brite als Erster Solist parat: Douglas Lee bringt die Intelligenz und den Feinschliff der englischen Schule mit, gerät aber immer mal wieder mit einer ganz normalen Double Tour oder mit dem hohen Tempo bei Balanchine in Konflikt. Andererseits besitzt er als aufrichtiger und natürlicher Schauspieler genau die dramatische Begabung, die das Stuttgarter Cranko-Repertoire so dringend braucht: Lee spielt nicht nur vorgegebene Rollenporträts nach, sondern beseelt Charaktere wie Romeo oder Onegin durch neue, eigene Gedanken. Vielleicht gibt ihm eine Beförderung den Kick, sich endlich richtig frei zu tanzen.

Friedemann Vogel dagegen, der nach nur vier Berufsjahren zum Ersten Solisten aufsteigt, überzeugte bisher nicht als Darsteller, enttäuschte sogar in leidenschaftlichen Rollen wie in „Poème de l'extase“. Dass sich der angehende Danseur noble bisher mit der Verteilung schöne Technik, wenig Ausstrahlung zufrieden gab, mag auf manchen ein wenig snobistisch gewirkt haben. Mit seinem Lenski im April diesen Jahres aber hat auch er plötzlich die Qualität in sich entdeckt, durch die Robert Tewsley immer am tiefsten beeindrucken konnte: an die äußerste Grenze dessen zu gehen, was man auf der Bühne überhaupt zu geben hat. Endlich fügt sich etwas beim kleinen Bruder, endlich hat es einen Ruck getan und das Ergebnis könnte irgendwann sogar großartig werden. Der Weg dahin jedenfalls verspricht spannend zu sein.

Filip Barankiewicz, der dritte der neuen Ersten Solisten, zehrte in dieser Saison eher von vergangenen Erfolgen. Der Pole, dessen sensationelle Sprünge in „Don Quixote“ oft genug das kollektive Publikums-“Ah!“ ausgelöst hatten, tanzt wie ein junges Fohlen: frisch und offen, direkt und liebenswert, aber sein Stil wirkt noch immer nicht sauber und poliert genug. In modernen Werken fehlt ihm die Intensität, was am Mangel an Gelegenheiten liegen mag.

Für alle drei Frisch-Beförderten kommt die neue Position eigentlich zwei, drei Jahre zu früh; bestimmt wäre es sicherer gewesen, einen fertigen Solisten als Vorbild für die jungen Tänzer einzukaufen (was auch auf internationalem Niveau gar nicht so einfach ist), aber es war in Stuttgart schon immer Tradition, die Solisten aus dem eigenen Corps heranzuziehen.

Ein wenig überraschend wirkt die Beförderung von Alicia Amatriain, die direkt von den Halbsolisten zur Etoile-Stellung aufstieg (wo sich bereits fünf weitere Damen tummeln). Vielleicht hätte ihr ein Jahr als einfache Solistin eher die Gelegenheit gegeben, Erfahrung zu gewinnen und ihre überragenden körperlichen Möglichkeiten zur Gestaltung von Rollen und weniger zum Selbstzweck einzusetzen. Spannend dürfte bei ihrem offensichtlich vorhandenen komischen Talent ein Debüt als „Zähmungs“-Katharina werden.

Fast kollektiv sind die Halbsolisten zu Solisten aufgestiegen: Jason Reilly verbindet spektakuläre technische Qualitäten mit einer sauberen, schönen Linie und wird sich mit etwas mehr darstellerischer Erfahrung als nächster Kandidat für die Top-Position empfehlen. Eric Gauthier (der unbedingt eine Wiederaufnahme von Béjarts „Gaîté Parisienne“ verdient hätte) und Thomas Lempertz sind die schnellsten Tänzer der Truppe, Mikhail Kaniskin repräsentiert mit seiner reinen, klaren Geometrie und mit federleichten Sprüngen den russischen Ballettadel. Ein ganz beachtliches Talent wächst im neuen Halbsolisten Jorge Nozal heran, der in seinen bisherigen Rollen (zum Beispiel als herzergreifender Graf N. in der „Kameliendame“) ebensoviel Spielbegabung wie tänzerisches Können gezeigt hat. Auch Katja Wünsche, die beste Olga seit langer Zeit, ist ein Glücksfall. Die neue Halbsolistin mag vielleicht nicht den idealen Tänzerkörper besitzen, überzeugt aber durch Wärme, Klugheit und Variabilität. Was für das noch immer über Tewsleys Verlust enttäuschte Stuttgarter Publikum im Augenblick wie eine Durststrecke aussehen mag, die nur wenige vollendete Tänzerpersönlichkeiten offeriert, bietet also die spannende Aussicht, großen Talenten beim Wachsen und beim Reifen zuzusehen.

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