Ein Zeichen für die Zukunft gesetzt
Wiederaufnahme von John Crankos „Schwanensee“
John Cranko gab in seiner Bearbeitung der traditionellen „Schwanensee“-Choreografie vor allem dem Prinzen mehr zu tanzen - als hätte er 1963 schon geahnt, dass in Stuttgart einmal die männlichen Tänzer brillanter sein werden als die Ballerinen. Bei der jetzigen Wiederaufnahme der bald 50 Jahre alten Inszenierung tanzt Friedemann Vogel endlich mal wieder zuhause und begeistert mit einer Vorstellung auf Weltniveau. Sekundenlang scheint er auf dem Scheitelpunkt seiner weiten Sprünge in der Luft zu stehen, er verzögert seine eleganten Drehungen frei nach Belieben und mit der Souveränität eines Künstlers, der sein Handwerk in Vollendung beherrscht. Eine superbe Technik hatte Vogel schon immer, aber nun kommt auch dieses Strahlen von innen dazu und eine vollkommene Identifikation mit der Rolle, angefangen bei der netten Pantomime als Wahrsagerin bis zum abwesenden, verträumten Blick, mit dem er im dritten Akt neben seiner Mutter sitzt und ständig nur an Odette denkt. Wir sehen einen Tänzer auf dem Höhepunkt seiner Karriere, dem alles gelingt, was er möchte.
Wenn er nur auch so einen Schwan hätte. Einem Vergleich auf internationalem Niveau würde Alicia Amatriain schon wegen ihrer Technik nicht standhalten, ganz zu schweigen von ihrem übertriebenen Stil. Als Odette versinkt die blonde Spanierin von Anfang so tief in Selbstmitleid, dass sie den Prinzen weder als Liebenden noch als möglichen Retter vor ihrem Fluch braucht - eigentlich nur als Stütze beim Tanzen. Als schwarzer Schwan ist sie dann Lulu, Carmen und Salome auf einmal; Prinz Siegfried verfällt hier nicht der changierenden Persönlichkeit eines verzauberten Wesens, sondern er fällt auf ein schiefes Grinsen, auf die Anmache eines Glamour-Girls herein - ach, würde sie diese Show nur in Form von technischer Virtuosität abziehen... Zwar legt die spanische Tänzerin bei ihren Fouettés anfangs dreimal doppelte ein, fällt danach aber aus der Musik und bringt sie nur mit Mühe (und unterzählig) zu Ende. Ihre abgeknickten Hände ähneln hier eher den Insektenfühlern aus „The Cage“ als dem klassischen Port de bras, und wen sollen die vielen 180-Grad-Penchés beeindrucken, wenn man dafür auf Odettes weiche Schwanen-Arme verzichten muss? Natürlich steht nirgendwo geschrieben, dass man diese berühmteste aller Ballerinen-Rollen nicht frei interpretieren darf, aber Amatriains Stil fällt im dritten Akt derart aus dem Rahmen der von allen anderen Tänzern eingehaltenen klassischen Contenance, als wäre sie im Revuetheater.
Wie gut, geradezu beruhigend, dass Stuttgart auch eine Tänzerin wie Elena Tentschikowa hat, die in der Abendvorstellung das exakte Gegenbeispiel lieferte. Ruhig, sicher und mit erhaben-melancholischer Haltung zelebriert sie die reine St. Petersburger Klassik, reiht sich mit Demut in eine hundert Jahre alte Tradition, anstatt sich in diesen von vielen hochberühmten Ballerinen tradierten Bewegungen selbst zu verwirklichen. Sie steht beschützend vor ihren Schwanenmädchen und nicht als Star des Abends, sie bleibt als funkelnde Odile immer noch im klassischen Stil und zeigt zwei Seiten eines Wesens statt zwei völlig verschiedene Frauen. Technisch sieht das alles lupenrein aus, bis hin zu ihren weichen Port de bras, wenngleich zur höchsten Erfüllung die schwebende, schwerelose Lyrik der Arme gehören würden, seit Marcia Haydée sozusagen die Stuttgarter Note an diesem „Schwanensee“. Die gab es zuletzt bei Diana Martinez Morales oder Roberta Fernandes, und vielleicht kehrt sie mit Elizabeth Mason wieder, die im Herbst in der Rolle debütieren soll und bereits bei ihrem Julia-Debüt eine feine Kultur der Arme zeigte.
Das Corps de ballet der Schwäne tanzt korrekt, aber noch nicht schön - es fehlt das magische Wogen und Fließen der Reihen, die Bewegungen wirken insgesamt eher zackig als weich. Vielleicht fehlt hier doch die korrigierende Hand von Ballettmeisterin Valentina Savina, die Stuttgart gen Berlin verlassen hat. Auch die Solos der Bürgerinnen im ersten Akt sehen korrekt aus, aber bestimmt nicht immer souverän; Magdalena Dziegielewska überzeugt hier ebenso wie Anna Osadcenko und in der zweiten Besetzung die junge Rachele Buriassi.
Insgesamt wird der Qualitätsunterschied zwischen Frauen und Männern beim Stuttgarter Ballett immer auffälliger - anders als die Damen sind die Herren bis in kleinste Rollen und bis ins Corps de ballet eine sichere Bank (welche Kompanie kann das schon von sich sagen!) - wo man nur hinschaut, wird da fantastisch gesprungen und gedreht, vor allem von Filip Barankiewicz als Benno (seine Double Tours müssten eigentlich für einen Lehrfilm aufgezeichnet werden), aber auch von Marijn Rademaker oder Stefan Stewart. Und natürlich von Jason Reilly, Tentschikowas Prinz, der sie exquisit partnert und ein wenig direkter, nicht ganz so nobel tanzt wie Vogel; dieses zweite Paar agiert miteinander, nicht nebeneinander her. Als Rotbart wirken weder Jiri Jelinek noch Douglas Lee wirklich dämonisch, dafür hat das Staatsorchester inzwischen doch noch vom internationalen Rang der Ballettkompanie gehört (im Gegensatz zur Stuttgarter Oper) und strengt sich unter James Tuggle weit mehr als sonst an.
Link: www.stuttgart-ballet.de
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