Paris Hilton im Tutu
Wiederaufnahme von „Schwanensee“ beim Stuttgarter Ballett
Kein Weihnachten ohne „Nussknacker“ oder „Schwanensee“ – für letzteres entschied sich das Stuttgarter Ballett, und so labte das Publikum einen Tag nach Heiligabend im Stuttgarter Opernhaus am süßen, schneeweiß-fedrigen Zaubertrank, wie ihn John Cranko vor 54 Jahren zusammengemixt hatte. Der Gründer des Stuttgarter Balletts war kein Mann, der sich, von den Menschen und ihren Sorgen abgewandt, genüsslich Kreationen widmete, die in Stil und Ästhetik erstarrten und hier vor allem die historische Vorlage von Marius Petipa und Lew Iwanow aus dem Jahr 1895 traditionell abfeierte. Im Gegenteil. Seine „Schwanensee“-Version lebt von der Vermenschlichung und Psychologisierung des Helden Prinz Siegfried, der stringenten Entwicklung eines tragischen Konfliktes und einem unter den grandiosen Ornamenten der Ordnung und der Symmetrie tief verborgenen Nachdenken über den freien Willen des Menschen. Dass man so gesehen auf neue Spurensuche beim Stuttgarter „Schwanensee“ gehen konnte, ist den beiden KammertänzerInnen Alicia Amatriain und Friedemann Vogel zu verdanken, aber auch der starken, dunklen Präsenz von Roman Novitzky als böser Prinz Rotbart. Seitdem Amatriain und Vogel vor vierzehn Jahren, im Winter 2003, erstmals in die begehrten Rollen geschlüpft waren, haben sie die emotionale und mentale Gestaltung der komplexen Cranko-Rollen in einer Weise entwickelt, dass man heute demütig dafür dankt, solche großartigen Künstler erleben zu dürfen. Vogel, der zu jenen Darstellern zählt, die in jeder Rolle irgendwo „er selbst“ bleiben; der nicht verschwindet in einem Charakter, wie dies eher bei seinem Kollegen Jason Reilly geschieht, ist die große Freude, erneut Prinz Siegfried zu tanzen, anzusehen. Fast lausbubenhaft bahnt sich, kaum steht er auf der Bühne, die gute Laune ihren Weg in seine Gesichtszüge. Locker und glaubhaft spielt er auf, als es darum geht, den vaterlosen Siegfried im ersten Akt als jemanden zu zeichnen, der sich, fernab des Hofes und des rigiden Regiments der Mutter, (wunderbar menschlich dargestellt von Melinda Witham), im Kreis des einfachen, fröhlichen Volkes neue Möglichkeiten erobert, eigene Entscheidungen zu treffen: darüber wie er und mit wem er die Zeit verbringen möchte, welches Mädchen es ihm dabei besonders angetan hat und wie man sich immer wieder einen Spaß erlauben darf. Das Ensemble spielte begeistert mit und meisterte es, den typischen Cranko‘schen, lebendig-unübersichtlichen, gesellschaftlichen Mikrokosmos wie in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb aufleben zu lassen – mitsamt vieler Facetten des menschlichen Daseins: dem sinnliches Vergnügen, der Kurzweiligkeit, dem Spiel und dem Wein, dem Tratsch hier und dem Schwätzchen da. Der formidable Tanz, insbesondere der besondere Pas de six, fügte sich nahtlos in den erzählerischen Fluss ein.
Unprätentiös, ganz auf die Strukturen und Symmetrien setzend, gestaltete das Ensemble im berühmten weißen Akt die Szenen, in denen sich Alicia Amatriain als verzauberte Prinzessin im Schwanenkleid entfalten konnte. Sie tat dies sehr ruhig, fast in sich gekehrt, mit grandios entwickeltem Gefühl für die Wirkung jeder mit Armen oder Beinen in den Raum gezeichneten Linie, jeder Beugung oder gar jeder kleinsten Führung der Hand. Die von ihr dadurch entwickelte emotionale Signatur der Odette erlangte eine spannungsvolle Tiefe. Amatrains Odette war kein um Erlösung flehendes, gegen ihr Schicksal aufbegehrendes Prinzesschen, sondern eine Frau, die sich schon sehr lange in Strukturen einzurichten hatte, die ihr keinen Spielraum für eine freie Entfaltung ihres Ichs gewährten. Unter narrativen Gesichtspunkten konnte ihre Odile erst auf diese Weise zu einem Spiegel für Siegfried und dessen aussichtslosen Kampf um Autonomie werden. Die Zartheit, mit der sie für einen Augenblick die Utopie einer Partnerschaft im entscheidenden Pas de deux aufblitzen ließ, quasi Einblick in das Innere der Odile gewährte, zählt zu den sowohl tänzerisch als auch darstellerisch beeindruckendsten Momenten des Abends. Es passte, dass Amatriain im dritten Akt als verführerische Odile nicht mehr hineingeben musste als Schrittmaterial und Szenerie von ihr verlangten. Das Substanzlose ihrer Fata Morgana Odile kam dadurch umso stärker zum Ausdruck wie auch die Projektion des in seinen Bildern und Sehnsüchten verlorenen Siegfried auf sie als seiner zukünftigen, von ihm selbst erwählten Frau.
Am Ende tanzen sie nochmals ihren Liebes-„Pas de deux“, allerdings wie kraftlos, Lebensenergie verlierend – Amatriain wie eine Wissende, Siegfried als Spielball der Mächte, verkörpert durch den alles beherrschenden Rotbart. Ihr beider Untergang – Siegfried in den Fluten des übertretenden Sees, und Odile in der autoritären, entmenschlichten Diktatur des Alleinherrschers – gerät zur düsteren, biblischen Apokalypse. Man kann sich nicht vorstellen, dass Cranko diese Tiefe nicht beabsichtigte.
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