„Schwanensee“ oder Cranko redivivus

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Stuttgart, 30/12/2002

Keine Frage: „Schwanensee“ muss sein – das Publikum will es, die Tänzer wollen es, die Ballettchefs wollen es und die Verwaltungsdirektoren haben auch nichts dagegen. Und die Kritiker? Die sind sowieso immer missmutig und fürchten die ständigen Umbesetzungen, für die ihnen die Feuilletonchefs keinen Raum zur Verfügung stellen. Das New York City Ballet kommt zwar ohne aus, aber das ist auch keine Opern-Ballettkompanie und Béjart... wer weiß, was der noch im Schilde führt!

Doch welcher „Schwanensee“ soll es sein? Die Stuttgarter – einige Stuttgarter – sind der Meinung, den besten „Schwanensee“ der Welt zu haben. Immerhin wird der im neuen Jahr vierzig Jahre alt, dreißig Jahre nach Crankos Tod! Da fragt man sich natürlich, wer von uns wohl dreißig Jahre nach seinem Tod noch so quicklebendig sein wird wie John Cranko derzeit allabendlich im Stuttgarter Opernhaus. Es ist wohl die älteste noch immer Repertoire befindliche „Schwanensee“-Produktion einer westlichen Kompanie, noch vor Nurejews international berühmterem Wiener „Schwanensee“ anno 1964 (der nicht denkbar wäre ohne Nurejews vorherigem Gastspiel als Siegried in der Stuttgarter Aufführung, wie denn überhaupt die ganze Aufwertung der Prinzenrolle seither durch Cranko).

Also füge ich mich dem allgemeinen Consensus, schließe die Augen während des unsäglichen Klabautermann-Gekaspers des Prinzenerziehers, finde die Jürgen Rose‘sche Ausstattungspracht nachgerade allzu wuchtig, bestaune die Phrasierungseleganz, zu der Davor Krnjak an diesem Abend die Stuttgarter Staatsorchestralen animiert und freue mich über die frischgestärkte Spontaneität der Tänzer und ihre krispe Linearität in den Corps-Szenen und bin dann richtig begeistert über den funkensprühenden Dialog, den Alicia Amatriain und Robert Tewsley im „Schwarzen Schwan“ miteinander führen.

Hinterher muss ich freilich bekennen, dass ich an diesem Abend indisponiert war, das kann schließlich auch einem Kritiker mal passieren, und in der zweiten Pause gegangen bin, um den Nachbarn meine immerhin perfekt auf die großen Orchesterausbrüche abgestimmten Hustenanfälle zu ersparen. Nicht zuletzt deswegen war ich vermutlich so milde gestimmt, denn nachdem ich nunmehr vierzig Jahre lang Crankos „Schwanensee“ in Stuttgart begleitet habe, hätte ich zur Abwechslung eigentlich lieber mal einen anderen „Schwanensee“ auf der Bühne des Großen Hauses gesehen, von Matthew Bourne beispielsweise oder von Mats Ek, und nach so langem kreativen Vaterschaftsurlaub dürfte es von mir aus in Stuttgart ruhig auch mal wieder ein neuer Béjart sein!

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