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„Strawinsky inspiriert“ zum Sechsten

oe
Stuttgart, 14/12/2004

Ganz so inspiriert wie die Premiere vor elf Tagen war die sechste Vorstellung nicht. Das lag aber nicht an den Ausführenden im Orchester (wieder unter James Tuggle, diesmal mit Jewgeni Schuh als Soloviolinisten) und auf der Bühne, sondern am Publikum, in dem es an diesem Abend längst nicht so „knisterte“ wie vor anderthalb Wochen. Ein volles Haus, ein doch sehr betuchtes Publikum, auffallend wenig Jugend, durchaus freundlicher Beifall (im „Violinkonzert“ sogar nach den einzelnen Sätzen, was bei der Premiere nicht der Fall war – Zwischenbeifall auch im „Sacre“). Aber dieses Pingpong-Spiel, das Stuttgarter Ballettvorstellungen so einzigartig machen kann, dieses Funkensprühen zwischen Bühne und Zuschauerraum, zündete diesmal nicht so recht.

Der Abend insgesamt ist ein ausgesprochener Repertoiregewinn. Ballett satt, sozusagen. Dabei hätte auf die Sättigungsbeilage der uraufgeführten „Igor Poems“ getrost verzichtet werden können – „Violinkonzert“, „Cage“ und „Sacre“ sind so kalorienhaltig choreografiert, dass die drei absolut ausgereicht hätten – zumal da „Sacre“ zum Schluss sich als eine solche Bombe erweist, die nicht nur die Tänzer, sondern die Leute im Zuschauerraum an den Rand der Erschöpfung treibt. Aber wenigstens in eine glückliche Erschöpfung – so ganz anders als bei vielen Abenden, die das Publikum mit der Fragestellung „And so what?“ nach Hause entlassen. Die Tänzer auf der Bühne: geradezu heißhungrig! Auch die umbesetzten Novizen. Im „Violinkonzert“ jetzt Alicia Amatriain und Marijn Rademaker, Roberta Fernandes und Filip Barankiewicz (zuvor Bridget Breiner und Jason Reilly, Sue Jin Kang und Friedemann Vogel). Die Aufführung hat noch an Schnittigkeit und Drive gewonnen: die Quadrillen-Formationen der Damen und Herren springen ihre Arrangements noch synchroner, in den beiden Solistenpaaren jetzt ein anderes Mischungsverhältnis der Temperamente – nicht weniger attraktiv als zuvor, ein Beweis, dass auch rein konzertante Choreografien ausgesprochen individuell timbriert werden können. Das ganze Ballett wie ein Reinigungsritual!

„The Cage“ sodann: das Amazonenheer noch zähnebleckender und blutdürstiger – die Besetzung fast unverändert (statt Pettenella diesmal Mikhail Soloviev). Amatriain als Novizin mit noch differenzierterer Ausdrucksskala und einem Hauch von Trauer über ihre Instrumentalisierung – gleichsam ihre Fundamentalisierung (man denkt an die Gehirnwäsche der Selbstmord-Attentäter) – als Killerin. Diana Martinez Morales als Domina in diesem Frauenstaat, Reilly als männlicher Abenteurer, der sich zu weit vorgewagt hat: ganz große Klasse, diese Stuttgarter Besetzung.

Die düstere Ballade der „Igor Poems“ lässt bei der Wiederbegegnung die Strukturen besser erkennen – auch die Individualitäten schälen sich markanter heraus – besonders die von Eric Gauthier und Douglas Lee, Sue Jin Kang und Katja Wünsche. Im Diadem der choreografischen Edelsteine dieses Programms wirken sie gleichwohl wie schmutziger Strass. Aber dann dieser „Sacre“! Der schraubt den Energiepegel mit jeder Vorstellung noch ein bisschen höher. Man wünschte sich, es gäbe so etwas wie eine Richterskala wie bei den Erdbeben, damit man hinterher feststellen könnte: das war eine Vorstellung der Marke 10 auf der nach oben offenen Koegler-Skala!

Die Stuttgarter Männer: wie gedopt! Als wollten sie sich dafür rächen, was ihnen die Frauen in „Cage“ angetan haben. Diesmal nun also mit Reilly in der Opfer-Rolle. Opfer? Der wirkt hier eher wie ein Schamane, ein Vodoo-Priester, geradezu furchterregend elementar! Von animalischer Triebkraft mit Raketenantrieb auch das Solopaar von Roberta Fernandez und Nikolay Godunov. Das Stuttgarter Ballett: eine Tänzertruppe, geboren aus dem Erdbeben, das neulich die Schwäbische Alb erschütterte! Und noch eine Nachfrage zu der unseligen Foto-Zensur der Stuttgarter Ballettdirektion: wie wäre wohl es um unsere Kenntnis der Tänzer und des Balletts im Nachkriegs-Berlin bestellt, wenn Tatjana Gsovsky Siegfried Enkelmann ein Fotografierverbot erteilt hätte?

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