Die Pflicht ist erfüllt, die Kür fehlt
„Coppélia“ von Pierre Lacotte und Arthur Saint-Léon als Wiederaufnahme beim Wiener Staatsballett
Pierre Lacottes Bolschoi-Version von Petipas „La Fille du Pharaon“ auf DVD
Was Nofretete für die Liebhaber der bildenden Kunst bedeutet, das war für die russischen Ballettomanen ein gutes halbes Jahrhundert lang – bis zu ihrer letzten Vorstellung 1928 Marius Petipas zusammen mit Cesare Pugni in St. Petersburg 1862 (also rund fünfzig Jahre vor der Ausgrabung der ägyptischen Königin) uraufgeführte „Dotsch faraona“ (alias „La Fille du Pharaon“). Für den vierundvierzigjährigen Petipa, seit 1847 erster Tänzer und gelegentlicher Choreograf an der Newa, markierte sie den entscheidenden Durchbruch, der ihn an die Spitze des kaiserlich russischen Balletts katapultierte – ein großes Ballett in 3 Akten, 9 Bildern, mit Prolog und Epilog – Modell für seine späteren Grand Ballets via „Don Quixote“, „La Bayadère“ und „Dornröschen“ bis zu „Raymonda“.
Im Jahr 2000 inszenierte Pierre Lacotte, renommiert als Rekonstrukteur zahlreicher romantischer Ballette (darunter auch der unsägliche Berliner „Feensee“), „La Fille du Pharaon“ für das Moskauer Bolschoi-Ballett, „d‘après Marius Petipa“ – in eigener Ausstattung. Die Einstudierung wurde 2003 gefilmt und liegt jetzt als DVD-Aufnahme vor (harmonia mundi/Bel Air, BAC 001; 130 Minuten – mit einem Lacotte-Interview als Bonus). Dazu gibt es ein Textheft (auch in deutscher Sprache) mit Inhaltsangabe (die zum Teil erheblich von der Produktion abweicht) und Werkkommentar – mit Svetlana Sacharova und Sergei Filin als Stars.
Es existiert eine Stepanow-Aufzeichnung der originalen Petipa-Choreografie, deren sich Lacotte aber nur für ein paar Einzelnummern bedient hat, der sich im Übrigen von diversen russischen Experten beraten ließ und den Rest selbst à la Petipa choreografierte. Das kommt mir vor wie die Praxis berühmter früher Malerschulen, deren kollektive Werkstattarbeiten dann den Meistern zugeschrieben wurden. Das Ergebnis ist ein kurioses Mixtum, das beim jüngsten Bolschoi-Gastspiel in London sehr gespaltene Reaktionen hervorrief. Ich selbst bin hin und hergerissen angesichts dieser DVD – ziemlich entsetzt über das Geklingel der Musik von Pugni (kein Vergleich mit Minkus, geschweige denn Tschaikowsky oder Delibes – hier gespielt vom Bolschoi-Orchester unter dem musikalischen Arrangeur Alexander Sotnikov), wenig überzeugt von der Inszenierung insgesamt (trotz der adretten Kostüme), und dann doch immer wieder elektrisiert von den Tänzern (solange sie tanzen und sich nicht gerade mimisch gebärden).
Es ist ein Ballett – nach Theophile Gautiers „Roman einer Mumie“ – ganz nach der ägyptischen Mode jener Zeit, die ihren theatralischen Höhepunkt in Verdis „Aida“ (1871) hatte (siehe dazu auch das hochinteressante Kapitel „Orient an der Wolga – Die Ballets Russes im Diskurs des Orientalismus“ in „Spiegelungen – Die Ballets Russes und die Künste“, koeglerjournal vom 30. April). Die Handlung: ein britischer Archäologe flüchtet sich vor einem Sandsturm in eine Pyramide, findet dort eine Mumie, die sich ihm in einem Opiumrausch als Pharaonentochter Aspicia belebt, mit der er eine leidenschaftliche Liebesaffäre und alle möglichen Abenteuer zu bestehen hat, bevor sie ihm am Schluss in einer Apotheose entschwebt und er wieder in die Realität zurückfindet.
Das wickelt sich ab als ein Riesenspektakel, mit zahlreichen pompösen Aufzügen, Divertissements, Pas d‘actions, Einzel- und Ensembletänzen bald klassisch, dann wieder en caractère – immer hübsch anzusehen, auch in einer Unterwasserepisode (Aspicia stürzt sich vor den Nachstellungen des ihr anverlobten Nubierfürsten in den Nil), doch längst nicht so kristallinisch und auch nicht immer musikalisch so nachtwandlerisch zugeschliffen, wie wir es von den besten Petipa-Pieçen gewohnt sind. Eher verblüffend, dass sich Petipa so gar nicht von ägyptischen bildkünstlerischen Vorlagen inspirieren ließ (sehr im Gegensatz zu seinen indischen Inspirationen in „La Bayadère“).
Getanzt wird, wie gesagt, mit Attacke und Bravour, auffallend die vielen raschen kleinen Schrittkombinationen, aber auch die unmöglich harten Landungen der Damen im Kollektiv, bei denen man den Eindruck gewinnt, sie tanzten nicht in Spitzenschuhen, sondern in Holzpantinen. Elegant und schnittig, in vollendeter partnerschaftlicher Harmonie, wenn auch ziemlich cool, Sacharova als Aspicia und Sergei Filin in der Doppelrolle als Lord Wilson und als ägyptischer Lover Taor à la Omar Sharif. Alles in allem eine Museums-Kuriosität. Ich hoffe nur, dass niemand auf die Idee kommt, „La Fille du Pharaon“ für eins unserer Opernballette zu inszenieren!
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