Bizarre Stoffobjekte
Fotoblog von Dieter Hartwig
Im Licht sich kreuzender Scheinwerfer ragt hoch droben der Oberkörper einer Frau wie eine stolze Plastik auf. Als sie in ihren schemenhaften Hebepulk hinein abstürzt, peitschen Lampen über die Szene. Ob sie die Frau kaltblütig geköpft hätten, sie einfach vom Sockel gestoßen haben oder die Gehobene wissentlich den Lichtraketen Platz gemacht hat, bleibt ungewiss. Ein starker Einstieg in das Gastspiel des Bahia Ballets bei seinem Berlin-Debüt an der Komischen Oper. „Paradox“ nennt sich, was 30 Minuten lang folgt. Körperenge schwarze Kleidung tragen alle 17 Tänzer, die sich aus der Hebeballung lösen, raffiniert durchsichtige Tops die Jungen, Pumps die Mädchen. Und alle blicken sie durch eine Art Brille aus roter Schminke. Zum spannungsgeladenen Mix aus Ethnoklang, Instrumenten wie Gitarre, Klavier oder Streichern sowie elektronischen Samplern des Brasilianers Fábio Cardia hat sein Landsmann Tindaro Silvano eine fulminante Studie über die Befreiung von Tradition und das Lebensgefühl Jugendlicher entworfen.
Auch choreografisch existieren keine Stilgrenzen: Mädchen stakeln wie Models nach vorn, ein Paar findet sich im Kuss, zwei Jungen umarmen sich, ein anderer stöckelt in knallroten Pumps an die Rampe und fragt provokant „Ja und?“. Je mehr Kleidungsstücke die vibrierende Schar ablegt, bis zu Bikini respektive Shorts, desto freizügiger wird ihr Umgang, steigern sich Tempo und Temperatur. Afro und Modern Dance, Capoeira und HipHop mischen sich im Fight der Geschlechter zu einer dynamisch athletischen Bewegungssprache, in der Liebe rasch zum Coitus führt. Am Ende strecken die Tänzer trotzig die Zunge heraus, „Ja und“ schiebt eine Schönheit nach und strebt einer Tür aus Licht zu.
Das Bahia Ballet ging aus der 1981 gebildeten Theaterkompanie der Drei-Millionen-Hafenstadt Salvador da Bahia, Metropole des frankreichgroßen Bundesstaates Bahia und Zentrum des weltweit größten Straßenkarnevals, hervor. Antonio Carlos Cardoso, einer der Mitbegründer, heute ihr Künstlerischer Direktor, möchte auf Bahias multikulturelle Gegenwart aufmerksam machen, zu der sich indianische, afrikanische und portugiesische Wurzeln unauflöslich verflochten haben und in der Götter vieler Religionen koexistieren. Seit 1992 geht das Bahia Ballet als Botschafter einer der ärmsten Regionen des Landes auf internationale Tourneen. Was dabei aus der größten katholischen Nation heraus die Bühnen der Kontinente entert, zeugt vom Mut und der Weltoffenheit ihres Leiters.
So stellt „Trinidade“ (1993) zu einem elegischen Streicheradagio von Samuel Barber Konflikte einer Dreierbeziehung aus. Luis Arrieta lässt sein Trio aus verwickelten Formen und sehnsuchtsvollen Hebungen tröstlich enden: Beide Frauen schmiegen sich an die Brust des begehrten Mannes, aller Arme finden sich in einer Pose der Geborgenheit. Härtere Töne schlägt seine 30-minütige „Sanctus Suite“ an. Zum kraftvollen, christlich liturgisch, arabisch und afroethnisch durchsetzten Eklektizismus des britischen Komponisten David Fanshawe entwickelt Arrieta hier beredte Bilder von Erlösung aus einem ganz diesseitigen Empfinden. Wartenden mit gesenkten Köpfen erscheint ein männlicher Engel, dessen Schleier sie aufgreifen, um sich später unter dessen aufgebauschten riesigen Rock zu flüchten. Dass der Engel, wie alle Männer, in knappen Shorts agiert und hebeartistisch mit einer oberkörperfreien Frau tanzt, mag in Brasilien als ungewöhnlich angesehen werden. Für europäische Augen erweist sich Arrietas wie auch Silvanos Vokabular nicht als revolutionär neu. Mit ihrer gelungenen Synthese aus nationalem Idiom und internationalem Einfluss helfen sie aber eine brasilianische Moderne entwickeln, die sich vom Einerlei der USA-inspirierten Konfektion abhebt und das Bahia Ballet unverwechselbar machen wird. Das überbordende Engagement der sympathisch jungen, persönlichkeitsstarken Tänzermannschaft tut dazu ein übriges.
Noch bis 26.07.05
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