Den Jahresabschluss um zwei Tage vorverlegt

Viermal Forsythe aus St. Petersburg

oe
Baden-Baden, 29/12/2005

Besser hätte 2005 gar nicht zu Ende gehen können als mit dem Forsythe-Ballettabend der St. Petersburger! Er wurde nicht zuletzt ein Triumph für die kluge Repertoirepolitik des Baden-Badenener Festspielhaus-Chefs Andreas Mölich-Zebhauser und seines so effizient arbeitenden Mitarbeiterstabs. Aber auch zu einem Triumph des Publikums, das eben nicht nur, wie anfangs befürchtet, lediglich aus den Schönen und Reichen der High Society stammt, sondern durchaus aufgeschlossen ist für neue, jenseits des üblichen Festspielbetriebs offerierte Erfahrungen. Wenn es denn, was den Tanz angeht, so behutsam und umsichtig geführt wird wie von Mölich-Zebhauser, der es sich inzwischen sogar leisten kann, auch weiterhin dem in Bedrängnis geratenen New Yorker Mäzen Alberto Vilar die Treue zu halten (und damit seinen Kollegen von der Wiener Staatsoper, von Londons Covent Garden und der Metropolitan eine humane Lektion zu erteilt).

Und so korrigierten die 1400 Besucher dieser Vorstellung das Vorurteil, im Grunde nur an immer wieder neu aufgelegten „Schwanensee“- und „Nussknacker“-Vorstellungen interessiert zu sein und applaudierten den vier Forsythe-Piecen des Programms mit der gleichen Ausdauer wie an den Abenden zuvor – und ich habe niemanden entdeckt, der türknallend den Zuschauerraum verlassen hätte (wie das selbst in Frankfurt gelegentlich noch der Fall ist, wenn denn die Forsythe-Kompanie in einem Haus auftritt, das noch über Türen verfügt). Und auch wer befürchtet hatte, dass sich nach der Pause die Reihen merklich lichten würden, sah sich getäuscht: die Leute blieben – und hätten wohl am liebsten noch einen fünften Forsythe gesehen.

Und noch etwas bestätigte sich auf beglückende Weise für diejenigen, die der Überzeugung sind, dass technisch bestens ausgebildete Tänzer durchaus in der Lage sind, auch Choreografien zu meistern, die gegen alles das verstoßen, was ihnen im jahrelangen Training in den Klassen an akademischen Schritten eingetrichtert wird. Und die St. Petersburger tun das noch dazu mit einem solchen Charme, als ob sie sich augenzwinkernd darüber lustig machten, was sie doch in voller Seriosität demonstrieren. Und wenn schon Balanchine selbst nicht mehr seine Heimkehr als schon verloren geglaubter Sohn in die Stadt, die ihn aufgezogen hat und groß hat werden lassen, erlebt hat, so erscheint doch sein Sohn, nämlich William Forsythe dort eine Art Ehrenbürgerrecht zu genießen.

Wer so die russisch-amerikanische Ballettallianz bekräftigt sieht, dem braucht um die Zukunft des Balletts – Tanztheater hin, Tanztheater her – nicht bange zu sein. Für mich persönlich brachte der Abend darüber hinaus die Bestätigung meiner ketzerischen Ansicht, dass Forsythe-Ballette von Top-Ballettkompanien getanzt (Paris, Toronto, selbst Stuttgart), besser, überzeugender aussehen, als wenn sie von seinen eigenen Leuten getanzt werden – dass sie sich, mit all ihren Widerborstigkeiten, nahtlos in den großen, die Jahrhunderte überbrückenden Traditionsstrom eingliedern.

Mölich-Zebhauser hat wiederum überaus umsichtig operiert, indem er das erste Kompaktangebot von Forsythe-Balletten für Baden-Baden ganz auf Forsythes „Ballett-Ballette“ abgestellt hat – also auf relativ frühe Arbeiten, noch ohne Furcht vor dem Spitzenschuh: „Steptext“ (1985), „In the Middle, Somewhat Elevated“ (1987) (beide übrigens entstanden für andere Kompanien), „Approximate Sonata“ und „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ (beide 1996). Als zugegeben konservativer Ballettliebhaber, der wie in einer guten Ehe die gleichberechtigte Partnerschaft von Tanz und Musik für die noch immer gültigste und beglückendste künstlerische Erfahrung im Ballett hält, ohne grenzüberschreitende Interventionen – lies: Seitensprünge, beziehungsweise Mesalliancen – registrierte ich einen meiner sicher erinnerungsträchtigsten Ballettabende seit langem. Vielleicht bringen die St. Petersburger es ja eines Tages noch fertig, mich zu einem Fan jenes Forsythe zu bekehren, der mit Vorliebe in den Off-Limits-Revieren dessen wildert, was Norbert Servos seit neuestem die „Definitionshoheit über das Ästhetische“ nennt. Zuzutrauen wäre es diesen Mariinsky-Tänzern durchaus!

Sie sind schon eine fabelhafte Equipe, diese Tänzer mit dem Waganowa-Gütesiegel. Wenn mir bei der Frankfurter Premiere des „Steptext“ vor zwanzig Jahren noch das ständige Shreddern der Bachschen Partita auf die Nerven ging (wie zuvor Pina Bauschs Verhackstückung von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“), so legitimierten Daria Pavlenko und Igor Kolb (vergeben und vergessen sein unsäglicher „Schwan“ vom Abend zuvor), zusammen mit ihren Kollegen Andrei Merkuriev und Maxim Khrebtov, die choreografische Attacke Forsythes auf die sublime Komposition Bachs durch ihre tänzerische Kultur, die gleichsam den Kitt für die Wiederherstellung des vorsätzlich zerstörten Originals lieferten.

Und genau das geschah dann auch in „The Vertiginous Thrill of Exactitude“, wo Irina Golub, Olesya Novikova, Evgenia Obrastsova, Andrian Fadeyev und Leonid Sarafanov den von Forsythe der Schubert-Sinfonie aufoktroyierten „Thrill“ mit solch lockerer tänzerischer Selbstverständlichkeit praktizierten, dass sie Schubert das ihm angemessene klassische Maß zurückerstatteten. Wenn ich mich für die vier etüdenhaften Pas de deux der „Approximate Sonata“ weniger begeistern konnte (was geschähe wohl, wenn statt der omnipräsenten Projektion des „Ja“ ein „Nein“ erschiene?), so zündeten die sechs plus drei Tänzerinnen und Tänzer von „In the Middle, Somewhat Elevated“ ein derartig brillant explodierendes Feuerwerk der Pointen, dass man glauben konnte, Sylvester sei in diesem Jahr um zwei Tage vorverlegt worden.

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