Ballett mit Juwelen aus der Neuen Welt
Die erste Premiere der Direktion von Manuel Legris in der Wiener Staatsoper
Das Wiener Staatsballett tanzt in „Shifting Symmetries“ Werke von Hans van Manen, William Forsythe und George Balanchine
Wien, 23. Dezember. Nein, kein Nussknacker in der Staatsoper, auch wenn den Wien-Touristen Melodien aus dem Tschaikowsky-Ballett derzeit aus allen Ecken in der überquellenden Stadt entgegentönen und Rudolf Nurejews Fassung noch im Repertoire sein dürfte. (Die Pariser tanzen sie derzeit wieder.) Dafür aber drei Meister des neoklassizistischen Balletts, deren Tanzsprache das Publikum des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat. George Balanchine, der die zaristische, prunkvolle Rhetorik seines berühmten Vorgängers Marius Petipa entstaubte, Hans van Manen, bei der Premiere anwesend, der wiederum Mister B. abklopfte und William Forsythe, der in eine Balanchine überwindende Neoklassik das Labansche Raum-Labor und kluge Fragen an die Tanzenden und die Zuschauenden einband. In seinem Fall sprach man damals gerne von Totalem Theater. Alle drei arbeite(te)n sich dabei freilich nicht nur an einer definierten Danse d’école ab, sie setzten neue Maßstäbe bedingt auch durch den jeweils veränderten Blick auf Körperlichkeit und unterschiedliche Auffassung welche Rolle Tanzende innehaben können: Biegsames Material, fehlerhafter Mensch, Persönlichkeit.
Das formschöne und edle Design-Werk des Hans van Manen findet sich in dem 1994 für die Juniorenkompanie des Nederlands Dans Theaters uraufgeführten Vier-Paare-Stücks Concertante zwar wieder. Zu Frank Martins sperriger Petite symphonie concertante stecken die Paare ihre aufgeladenen Dialoge räumlich ab. Trotzdem wirkt die räumliche Wiener Setzung (Einstudierung: Nancy Euverink) in der puristischen Ausstattung von Keso Dekker mit dunklem Licht auf der großen Bühne schmalbrüstig. Erst gegen Ende lösen sich die hartkantigen Duo-Figurationen mit markanten Achterschleifen der Arme in weit ausschwingende Freiheit auf.
Das vielschichtige Werk Forsythes steht an diesem Abend einer kritisch betrachteten Gegenwart immer noch am nächsten, auch wenn sein Kult-Stück In the middle, somewhat elevated zu (an sich) markerschütternder elektronischer Musik von Thom Willems auch schon Jahrzehnte auf dem Buckel hat. 1987 mit Tänzer*innen der Pariser Oper uraufgeführt, war es ein Höhepunkt des Wiener Festivals „Tanz 90“, Forsythe-Protagonistin Elizabeth Corbett auf allen Plakaten. Das Ballett Frankfurt rockte den Messepalast, einer seiner Interpreten war Robert Poole, später Ballettchef in Linz. Seine dreidimensionale Körperlichkeit ist immer noch vor Augen. Als plastischer Körper wie aus dem Moment heraus in die Weite des Raums eingreifen – ein wesentlicher Aspekt der Forsythe‘schen Variabilität. Artikuliert sein, der Anderen immer gewahr werden. Das waren an der Staatsoper 2001 Simona Noja und Roberto Bolle, die das Duo aus In the middle, somewhat elevated tanzten, das sich auch 2017 in anderer Besetzung wiederfand. Noch vor seinem Antritt in Frankfurt kreierte Forsythe 1984 an der Staatsoper eine damals heiß diskutierte Filmarbeit zu Alban Bergs Drei Orchesterstücken. (Dies sei hier erwähnt, weil es im Programmheft der Staatsoper bei der Aufzählung vergessen wurde – fern von Schulmeisterei, denn dann müsste auch die heikle Schreibweise des prominenten Namens Émile Jaques-Dalcroze (sic!) im Frank-Martin-Text angeführt werden –; ähnlich dann auch beim Wiener Balanchine-Repertoire, das nicht erst 1973 – wie im Programmheft behauptet – begonnen hat, sondern genau genommen 1958, spätestens aber 1964 mit Die vier Temperamente, dann folgte ein Kracher nach dem anderen 1966 Serenade, 1967 Apollo, 1969 Divertimento,1972 Palais de Cristal = Symphonie in C).
Es ist immer schwierig, wenn Tänzer*innen-Generationen doch eine beträchtliche Zeit nach der Kreation den Geschmack der Uraufführung nachempfinden sollen und das im zeitlich eng bemessenen „Factory“-Betrieb, den ein Repertoire-Ensemble nun einmal zu absolvieren hat. Die Forsythe-Vertraute Kathryn Bennetts hat In the middle, somewhat elevated einstudiert. 37 Mal, erzählte sie bei einer Einführungsveranstaltung, hat sie das weltweit schon getan. Starke Einblicke in die Forsythe‘sche Welt des scheinbar Momentanen konnte sie den in Wien sich Erprobenden auf jeden Fall vermitteln. Die dissoziierte egomane Gesellschaft aus Individualtypen, die hier in einer wie filmisch zusammengeschnittenen Probensituation gezeigt wird, gibt es bei Balanchines großbesetztem Stück Brahms-Schoenberg-Quartet aus dem Jahr 1966 noch nicht. Die Bildhaftigkeit ist weit entfernt von scheinbarem Chaos. Geregelte Ordnung beherrscht das Treiben der Ballerinen, die von ihren Kavalieren gestützt werden. Diese vierteilige Choreografie anzukaufen (und - man muss sagen - fragwürdig neu auszustatten) scheint verwegen, da sie trotz des auch in diesem Fall nie verebbenden Einfallsreichtums Balanchines doch zu den Werken gehört, in denen der Meister die Balletthistorie des 19. Jahrhunderts opulent und kitschgefährdet aufs Ausführlichste paraphrasiert. Der Anlass dieser historisch orientierten Prachtentfaltung war wohl beim Bezug der neuen Spielstätte, dem New York State Theater, ein kulturpolitisch berauschendes Statement für das entsprechend zu fördernde New York City Ballet abzugeben. Einstudiert hat das breite Werk, das Balanchine wegen der Schönberg-Orchestrierung des Klavierkonzerts Nr.1. von Johannes Brahms entworfen hat, Peter Martins‘ Sohn Nilas Martins. Man braucht einen langen Atem als Publikum, auch wenn Dirigent Matthew Rowe, Neuling am Haus, sich hineinwirft und den Brahms im letzten Satz Rondo alla zingarese so richtig laut werden lässt.
Natürlich bringen alle diese unterschiedlichen Tanzsprachen des Abends dem herausgeforderten Ensemble insgesamt viel: Wendiger zu werden, leichtfüßiger, eleganter, akkurater. Marcos Menha hat den van-Manen-Stil intus; Davide Dato wirft sich kompromisslos in den Forsythe-Marathon, Hyo-Jung Kang kann im Balanchine ihre feine Grazie ausspielen. Die unermüdliche Kiyoka Hashimoto ist auch an diesem Abend im Dauereinsatz. Möglicherweise hätte man die Stückauswahl auch anders reihen können, mit Forsythe jedenfalls enden. Danach geht eigentlich nichts mehr.
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