Auftakt der Festwoche zu Ehren von Reid Anderson
„Skizzen“ und „Forsythe/ Goecke/ Scholz“ beim Stuttgarter Ballett
Auch in seiner zehnten Spielzeit als Stuttgarter Ballettdirektor pflegt Reid Anderson weiterhin die bewährte Mischung aus Klassik und Moderne. Zum Jubiläum gönnte er sich und seinem Publikum die luxuriöse Zahl von sieben Neukreationen - sag noch einer, die klassischen Ballettkompanien seien altmodisch und nichts als Bewahrer einer verstaubten Tradition.
Mit dem Kanadier Matjash Mrozewski war unter den Uraufführungs-Choreografen nur ein einziger echter Langweiler. Aber auch Kevin O'Day, noch vor einigen Jahren Garant für die schnelle, kühle Moderne, enttäuschte mit den inkohärenten „Igor Poems“, ansehnlicher plätscherte da schon Nicolo Fontes „Gambling, x 5“ vor sich hin. Hauschoreograf Christian Spuck sammelt, so nehmen wir mal an, bereits Kräfte für sein angekündigtes abendfüllendes Ballett im nächsten April und lieferte mit „la peau blanche“ einen logistisch beachtlichen, choreografisch wenig inspirierten Pflichtbeitrag ab. Wie Spuck gab auch Marc Spradling den Stuttgarter Tänzern in „melodious gimmick“ reichlich zu tun, aber noch wagte der Frankfurter Hochschulprofessor eher zu wenig als zu viel. Bleibt als große Entdeckung der Spielzeit Marco Goecke, der sich, anders als Spradling, immerhin vier Jahre lang bei den Noverre-Abenden beweisen musste, bevor Anderson ihn mit „Sweet Sweet Sweet“ ins Hauptprogramm hievte. Das düstere, nervöse Ballett stieß bei manchen Zuschauern auf Widerspruch, andererseits hörte Goecke von einem hingerissenen (und ehrlichen) Kollegen den Satz „darauf haben wir seit fünfzehn Jahren gewartet“. Nach langer Zeit gibt es im modernen Ballett wieder eine neue Handschrift, einen neuen Stil. Unter den vielen choreografischen Handwerkern ist Goecke ein Zauberer.
Im deutschlandweiten (und sogar im europaweiten) Vergleich bleibt Reid Anderson weiterhin derjenige, der die Entdeckungen macht, die andere Ballettdirektoren dann aufgreifen. Dazu gehört zum Beispiel der britische Choreograf Wayne McGregor aus der Londoner Off-Szene, den Anderson vor zwei Jahren als erster mit einer ganzen Ballettkompanie arbeiten ließ und der nun bei den europäischen Kompanien bis hin zum NDT herumgereicht wird. Er schuf in dieser Spielzeit mit „Eden I Eden“ ein weiteres futuristisches Maschinenballett für Stuttgart: dicht, stringent und beängstigend. Personell ist die Kompanie glänzend besetzt - Stuttgart ist sicher nicht mit Paris oder St. Petersburg vergleichbar, tanzt aber auf hohem europäischen Niveau. Mit Julia Krämers vorzeitigem Karriereende verlor das Ensemble im Oktober eine ganz besondere Persönlichkeit, aber ihr Strahlen und ihre Wärme leben, auf freilich ganz andere Weise, in Maria Eichwald weiter, die sich als reiner Glücksfall in fast allen Rollen erweist (und mit jedem ihrer Auftritte das Kopfschütteln darüber mehrt, wie Ivan Liska sie so einfach gehen lassen konnte). Leider ist weder bei den Halbsolistinnen noch im Corps de ballet weiblicher Nachwuchs in Sicht, keine dramatisch begabte Darstellerin und keine technisch stupende Baby-Ballerina - aber dieses Problem hat im Augenblick nicht nur Reid Anderson.
Dafür geht dem Stuttgarter Ballettchef nie der männliche Nachschub aus: mit Marijn Rademaker oder Evan McKie stehen die nächsten Solisten schon in den Startlöchern. Jason Reilly erweist sich immer mehr als legitimer Nachfolger des großen Richard Cragun, der sprungstarke Charmeur Filip Barankiewicz erforscht ganz neue Seiten an sich, und Friedemann Vogel ist nach seiner Verletzungspause mit dem gewissen Hauch Billy Elliot zurückgekehrt, mit einer ganz neuen Entschlossenheit. Dass das Stuttgarter Staatsorchester nach wie vor beim Ballett sein Berufsethos in der Kantine lässt und der hohen Qualität der Aufführungen grundsätzlich den Wermutstropfen versetzt, das nimmt man seit zwanzig Jahren hin - dennoch hat der Ballettchef nie auch nur den Versuch unternommen, diesen Missstand durch einen energischeren Ballettdirigenten zu beheben.
Und noch etwas wird in letzter Zeit deutlich, gerade im Vergleich mit den anderen großen deutschen Ballettkompanien: das Stuttgarter Ballett hat ein Image-Problem. Wohl gilt Bescheidenheit als Zier, und Vladimir Malakhovs Anspruch, mit seinem Berliner Staatsballett in der gleichen Liga wie Mariinsky, Paris, London und ABT spielen zu wollen, zeitigte in Ballettkreisen mehr Grinsen als Bewunderung. Aber immerhin zog Malakhov den (Stuttgarter) Sponsor DaimlerChrysler für eine DVD an Land. Im Schwabenland dagegen verkauft man sich deutlich unter Wert. Während das Münchner oder Berliner Staatsballett jedes Gastspiel ihrer Tänzer in die Welt hinausposaunen, erfährt man in Stuttgart kaum, wie häufig die Solisten international gastieren. Die offiziellen Fotos der Stuttgarter Kompanie könnten langweiliger kaum sein: Sie geben weder den Charakter eines Stücks noch das Charisma der Tänzer wieder, sondern einfach korrekte, leere Posen. Vielleicht werden deshalb die Namen der Fotografen nicht mehr genannt. Die gehaltvollen Programmhefte, die das interessierte und immer noch unentwegt umherreisende Stuttgarter Ballettpublikum gerne liest, kauft es sich in München, Hamburg oder Berlin, wo man den Stuttgartern auch vormacht, wie ein aktueller Internetauftritt aussieht.
Wohl ist Reid Anderson sein eigener Dramaturg, und seine Programmzusammenstellungen bleiben weiterhin vorbildlich: der schöne Strawinsky-Abend, die „Tanzsichten III“ mit ihrem verbindenden Thema Minimal Music. Aber es fehlt jemand, der die Tradition hochhält, die große Stuttgarter Ballettgeschichte, jemand der die Corporate Identity mit der gleichen Spitzenqualität zu definieren versteht, die man in jeder Vorstellung auf der Bühne sieht - ein Schriftgelehrter hinter den Kulissen vom Schlage Oberender, Theobald, Oberzaucher. Dann würden vielleicht auch nicht alle paar Jahre dieselben Werke auf dem Spielplan stehen, sondern man könnte im reichen Repertoire der Kompanie einmal die Stücke ausgraben, die seit Jahrzehnten nicht mehr getanzt wurden. Und vielleicht gäbe es eines Tages endlich die berühmten Cranko-Klassiker wie „Zähmung“ und „Romeo“ in exemplarischen Aufführungen auf DVD zu bewundern. Die Tänzer dazu hat Stuttgart wieder, und das Interesse an Cranko ist weltweit groß.
Link: www.stuttgart-ballet.de
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