Historisches Zeugnis
Das Mariinsky-Ballett gastiert mit Leonid Lawrowskis „Romeo und Julia“ im Festspielhaus Baden-Baden.
Nach den alljährlichen „Schwanenseen“ und „Nussknackern“ zeigte sich das St. Petersburger Mariinsky-Ballett bei seinem einwöchigen Baden-Baden-Gastspiel ungewöhnlich ambitioniert. Wohl gab es bei der Ballettgala die üblichen klassischen Pas de deux und auch das große klassische Abschlusswerk, aber Ballettdirektor Makhar Vaziev hatte immerhin drei moderne Choreografien ins Programm genommen, darunter eine veritable Uraufführung.
David Dawsons „Reverence“ wurde zum St. Petersburger Ballettfestival im März speziell für die Mariinsky-Truppe choreografiert. Zum dritten Streichquartett des Minimalisten Gavin Bryars hat der zukünftige Hauschoreograf des Dresdner Balletts ein dunkles, von einer fernen Wintersonne erhelltes Ballett in hohen, düsteren Wänden entworfen. Wo in dem zwanzigminütigen Stück die „Reverence“, die Verbeugung vor der Vergangenheit versteckt ist, bleibt vage – angedeutet werden ballettistische Reverenzen, also Verbeugungen, und auch ein paar wenige Zitate aus klassischen Werken.
Aber wie schon in seinem preisgekrönten Stück „The Grey Area“ behandelt der britische Choreograf alle Tänzer gleich – man kann die sechs Mitwirkenden kaum unterscheiden, und Dawson nützt auch die speziellen Qualitäten der Kirov-Tänzer nicht aus, ganz im Gegenteil: es hätte jede klassisch-moderne Truppe sein können. Dawson pflegt einen Stil der ständigen, gleichmäßigen Bewegung, eine Art hektischen Grundrhythmus: auf jeden Taktschlag kommt eine Bewegung, es gibt kein Innehalten, kaum eine zeitliche Strukturierung. Das ergibt ein düsteres Nach-Innen- und Vor-sich-hin-Tanzen, das mit seinen vorgeschobenen Hüften und den betont nicht weichen Armen, die immerzu aufdringlich durch die Luft wirbeln, wie schlecht kopierter Forsythe aussieht.
Ganz anders der Pas de deux „Get what you gave“ von Alexei Miroshnichenko, einem der vielen Ballettmeister der Truppe. Die kurze, abwechslungsreiche Uraufführung, die sicher nicht in die Geschichte eingehen wird, gibt ihren beiden Tänzern Andrej Merkuriev und Elena Sheshina zu fetziger elektronischer Musik die Gelegenheit, in einem modernen Stil mit ihrer Leichtigkeit und Virtuosität zu spielen. Ein sportives, ebenfalls vom zackigen Forsythe-Stil beeinflusstes Gelegenheitsstück, das aber wesentlich erfrischender wirkte als Dawsons aufgesetzter Intellekt.
Der dritte moderne Beitrag des Abends war das Solo „Schwan“, choreografiert zur berühmten Saint-Saens-Musik des „Sterbenden Schwans“ vom Enfant Terrible Radu Poklitaru, dessen moderne „Romeo und Julia“-Version fürs Bolschoi viel Aufsehen erregt hat. Igor Kolb entpuppt sich hier – nach einem technisch schönen, aber ebenfalls etwas faden „Spectre de la Rose“ zu Beginn des zweiten Teils – in einem an Maurice Béjart gemahnenden Clochard-Solo als hochinteressanter Charaktertänzer. Im zerfetzten Ringer-Trikot, mit hängener Mütze hebt der traurige Clown ständig siegessicher die Daumen, bei einem versuchten Abgang wird er von einem Lachen aus dem Off auf die Bühne zurückgezwungen. Ein ungewöhnliches und interessantes Solo, und wenn es nur dazu diente, den Klassizisten Kolb einmal völlig anders zu sehen.
Die andere Neuigkeit des diesjährigen Baden-Baden-Gastspiels waren vier neue Ballerinen, alle noch sehr jung und erst seit zwei, drei Jahren von der der Waganowa-Schule in die Kompanie gekommen. Und alle mit den typischen Kirov-Merkmalen: großgewachsen, mit endlos langen, schmalen, geraden Beinen und einer superben Technik. Mag es ihnen allen noch etwas an Persönlichkeit fehlen, eine so breite Phalanx an vorzüglichem weiblichen Nachwuchs macht einfach Eindruck. Allerdings zeigten sich alle Baby-Ballerinen nur von der virtuosen und nicht von der lyrischen Seite.
Weniger als spektakuläre Einlage, sondern sorgfältig auf die Feinheiten achtend tanzte Julia Bolschakova neben Vasily Scherbakov den „Blauen Vogel“ aus „Dornröschen“. Im schwarzen Pas de deux aus „Schwanensee“ brillierte die blonde Olga Esina, eine Art Grace Kelly auf Spitze, und peitschte ihre langen Beine bei den 32 Fouettés nur so hinaus. Genauso virtuos reihte Viktoria Tereschkina in einem Pas de deux von Viktor Gsovsky ihre verschiedenen Drehungen aneinander, spitzelte ihre Füße in makelloser Technik und unglaublicher Geschwindigkeit auf den Boden.
Aber ach, die Herren: Esina tanzte mit Danila Korsuntsev, einem großen und schmucken Tänzer von unfassbarer Langsamkeit; Tereshkina war mit dem jungenhaften Anton Korsakov besser dran, der zwar eine perfekte Manège nach allen Regeln der Kunst hinlegte, der aber wie Korsuntzev einfach kein Feuer, keine Leidenschaft, kein Engagement zeigt. Was die Damen an virtuosem Feuerwerk abziehen, das sieht bei den Herren sauber und oft auch schön aus, aber fast nie spektakulär. Bei den männlichen Solisten sind Paris, das ABT und auf jeden Fall auch Stuttgart den Petersburgern weit voraus.
Selbst Leonid Sarafanov und Andrian Fadejew konnten in Harold Landers „Etudes“ diesen Eindruck nur mindern, nicht widerlegen. Während zwischen ihnen Alina Somova, die vierte langbeinige Neuentdeckung, mit ihrem Krönchen um die Wette funkelte, freihändige Balancen mit über den Kopf erhobenem Fuß absolvierte und als Sylphide dem romantischen Ballett huldigte, gestalteten die beiden Solisten ihren Wettbewerb um die tollsten Sprünge, die am schönsten verlangsamte Drehung eher freundschaftlich, als wollte keiner dem anderen zu nahe kommen. Natürlich wird man das kaum stilvoller und exakter sehen, aber aufregender kann man es sich schon vorstellen.
Zu Musik von Knudage Riisager (nach Karl Czerny) reiht das durch und durch klassische Stück, 1948 fürs Königlich Dänische Ballett entstanden, Übungen und kurze, virtuose Stücke – die titelgebenden Etuden – für ein 36-köpfiges Corps und drei Solisten aneinander. Wie nicht anders zu erwarten, bewegten sich die Corps-Damen wie eine feste Einheit, erst an Ballettstangen, dann als Gefolge der Solisten wie bei Balanchine. Sein faszinierend homogenes, exzellentes Corps de ballet ist immer noch die verlässlichste Größe des Mariinsky-Balletts.
Links: www.mariinsky.ru/en / www.festspielhaus.de
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