Halbes Pferd, halber Tisch, halbe Erinnerungen
„Nostalgia“: Roni Haver & Guy Weizman spüren bei tanzmainz Erinnerungen nach
Wie Vampire stürzt sich das Paar aufeinander, beißt sich gegenseitig an Ohr, Nase, Hals, Kinn, an Armen und Händen und sonstigen Extremitäten fest, schlägt die Zähne in Kleidungsstücke, zieht den/die Partnerin daran hoch. Hundegebell wie auf der Jagd ertönt dann und wann. Blutrote Flecken verteilen sich auf weißen Hemden. Sie springt ihn an, schreit etwas wie „Komm her“, repetiert den Angriff härter und härter - ein Schnarcher aus irgendeiner Ecke. Blackout. Die Finalszene schließt den Bogen, weist zurück auf den Ausgangspunkt von „Gisela oder Resting Force“, von dem der Versuch startet, die innere Blockade zu durchbrechen, zum anderen, zur anderen zu finden, Kontakt mit der Welt aufzunehmen, um es einmal hochtrabend zu formulieren - wie es einst Giselle vergeblich unternahm.
Eine wilde Mischung aus explosiven Bewegungsfolgen, in sich gekehrten Soli, grotesken Augenblicken, die den Todernst unterlaufen, berührend zärtlichen Momenten tischen die israelischen Choreographen Guy Weizman und Roni Haver im emma-theater, der Studiobühne des Osnabrücker Theaters, auf. Hinzugefügt haben sie eine tieftraurige Ballade von Heinrich Heine, gesprochen von einer Tänzerin, die den melancholischen Ton der Todessehnsucht schön trifft, quasi als Ergänzung zur Giselle-Musik (2.Akt) von Adolphe Adam, die wiederum kontrapunktiert wird durch Stücke von John Cage, Michael Gordon und der schreienden Komposition von Bernhard Herman zu Hitchcocks „Psycho“.
In entsprechende Abgründe wagen sich Trios - je zwei Männer, eine Frau - mit keinesfalls Resting Force. Spiele zwischen Gewalt und Liebe, Zuneigung und Abwendung, ekstatischen oder entsetzten Schreien werden saftig abgespult. Die Choreographen bedienen sich dabei ohne Scheu, aber nicht epigonal, aus allen Richtungen, auch der klassischen, folgen allerdings nicht dem gegenwärtigen Trend zu bizarrer Armführung. Frauen werden hochgeworfen, Männer stürzen aufeinander, drei klammern sich aneinander, fliegen auseinander - die furiosen Sequenzen wiederholen sich manisch bei ständiger Steigerung der Musik. Da wird‘s ein Tick zu minimalistisch primitiv trotz technischer Höchstleistung der Tänzer/innen, der Höhepunkt verläppert sich dröhnend.
Das zehnköpfige Ensemble, gebildet aus sehr individuellen „Typen“, vollführt exakt, ohne Ermüdungserscheinungen den Ablauf. Dynamik, Kraft und Konzentration. Technisch sauber sind alle in den Soli, etwa zu Beginn, als sich die Frauen in klassisch langen Giselle-Tutus, gekoppelt mit profanen Oberteilen, im Friedhofsambiente auf die Fläche tasten in reduzierten, nie ausgetanzten Formen, eben blockiert. Auch die manchmal fast virtuosen Soli der Männer sind blank poliert. Die aufmerksame Partnerarbeit fällt ebenso auf wie die durchgehaltene Intensität. Dadurch entbehrt die zwischen plakativ und innig schwankende Szene „nackter Mann mit zwei Frauen“ jeglicher Peinlichkeit, der Entblößte wirkt nicht obszön, vielmehr verletzlich wie ein Opfer. Als ihn die Frauen im Sitzen über ihre Knie legen, ist die Pieta nicht weit weg. Weizman und Haver ist trotz einiger Brüche ein vielgestaltiges, vieldeutiges Psychodrama gelungen, zudem ein vitales Tanzstück. Der Beifall war stürmisch.
Gesehen: Premiere am 13.5.05
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