Völkermord in assoziativen Tanzbildern

Michael Apels „Vierzig Tage“ in Cottbus beschwören einen Genozid

Cottbus, 18/05/2006

Viel hatte sich Michael Apel für seine Abschiedsproduktion „Vierzig Tage“ am Staatstheater Cottbus vorgenommen: aufmerksam zu machen auf den ersten Völkermord des vergangenen Jahrhunderts, ihn in seiner künstlerischen Aufarbeitung zusammenzuzwingen mit Strawinskys Epochenmusik und das an ungewöhnlicher Spielstätte. Dass ein solches Vorhaben über weite Strecken gute Absicht bleiben muss, liegt auf der Hand. Es überhaupt angegangen zu haben, darin besteht das Verdienst des einstündigen, in eben seiner Absicht nachwirkenden Abends.

Als während des Ersten Weltkriegs in der Türkei die Armenier massakriert wurden, verschanzte sich 1915 eine Gruppe Getriebener auf dem Musa Dagh, dem Berg Mose. Nach 44 Tagen der Bedrängnis durch türkische Belagerer und ihre deutschen Militärberater errettete ein Geschwader französischer Kriegsschiffe rund 4000 Überlebende und brachte sie in ein Auffanglager. Den Originalbericht eines dieser Kämpfer veröffentlichte der Potsdamer Johannes Lepsius trickreich noch 1915. Erst nach Kriegsende wurde publik, dass im Osmanisch-Türkischen Reich mehr als eine Million Armenier vernichtet worden waren – mit Duldung seiner deutschen und habsburgischen Bündnispartner. Ende der 1920er erfuhr Franz Werfel von diesem Genozid und verdichtete ihn zu seinem 1933 publizierten, bald auf dem Bücherindex der Nazis stehenden Epos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Seit 1998 erinnert das Potsdamer Lepsius-Haus forschend und gedenkend der schrecklichen Ereignisse.

Eindrucksvoll bezieht Apel den Anmarsch durch einen drahtgittergesäumten Gang zum Hochspannungslabor der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus in seine Inszenierung ein. Fotos Hungernder, Fliehender, Getöteter machen den Betrachter zum Teil des Flüchtlingstrecks; Berge von Schuhen und Koffern, dicht hängende Kleidung, durch die man sich drängen muss, deuten Schicksale an. Eine Stimme liest, Tafeln zitieren Werfel. Wechsel -und Blitzstoßspannungskaskaden bilden in der fensterlosen Hochspannungshalle ein Gewirr metallener Giganten mit Pusteblume. Wo sonst Rotorblätter für Windkraftanlagen und Flugzeugtragflächen auf Blitzeinschlag getestet werden, stehen vor den verdunkelten Fenstern der zur Garderobe umgewandelten Messwarte die Zuschauertribünen.

Auf blutrotem Fleck zwischen gespenstisch beleuchteter Prüftechnik verrichten Stadtreiniger ihre Arbeit. Einem Kurzschluss folgen Bilder: Kamele, Berge, Soldaten. „Sacre du printemps“, Strawinskys 1913, kurz vor den mörderischen Geschehnissen uraufgeführte Skandalkomposition, setzt ein. Armenische Familien stehen, sitzen, bestellen ihr Land, Politiker tun Dienst. Die sieben Reiniger streifen den orangefarbenen Overall ab, werden unter Konterfeis und Filmsequenzen ausgemergelter, weinender Kinder mit Hungerbäuchen zu Gejagten. Seitlich kippen auf der Flucht die Körper ab, straucheln, hechten über den Boden. Einem vorgezeigten Befehl mag niemand glauben, bis er Realität wird.

Anstelle einer zusammenhängenden Erzählung lässt der Choreograf in einer Folge angsterfüllter Szenen Unterdrückung, Kriegsleid, Deportation Bild werden. Ein Paar, einander stützend, verabschiedet sich, zwei Wärter stoßen eine Frau vorwärts. Soldaten foltern und erdrosseln einen Mann, ein Alter versucht seine Bücher im Kaftan zu retten, ein Mädchen wird, ewiges Los, schleifend und umwerfend vergewaltigt. In fulminant aufbäumendem Solo, Kernstück des Abends, tanzt Heike Jahns die Wut des geschändeten Unterleibs heraus. Das Reinigungspersonal von heute gemeindet die Tote kurzerhand ein. Zu Fantasiesound, „Sacre“ ist bereits verklungen, zieht ein Zug Gebeugter vorüber, der sich unter Flugzeuglärm, Sirenengeheul, Schüssen in ein Leichenfeld verwandelt.

Bis dahin folgt man Apels mahnender Intention. Weshalb als Fanal à la Béjarts Feuervogel in Revolutionsröte der „Sterbende Schwan“ mit weißen Tutu über die Toten hingleiten muss, bleibt offen. Strawinskys Musikexzess fungiert als stimmungszeugende Tonkulisse für assoziative Tanzbilder. Wie bei der kleinen Tänzermannschaft Opfer zu Tätern und wieder zu Opfern werden, ist ein der Besetzungsnot geschuldeter, sinnträchtiger Nebeneffekt. Apels Nachfolger Dirk Neumann, in einer Person Leiter, Tänzer und Trainingsmeister, wird ab neuer Saison statt mit acht dann mit nur noch sechs Tänzern auskommen müssen. Geld für Gäste, hört man, sei ihm garantiert. Michael Apel formt künftig Leipzigs ehemalige Ballettschule in ein Zentrum für Kunst und Bewegung um.

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