Befreit von den Bocksprüngen unsauberer Faune

Die Pariser „Sylvia“-Produktion von John Neumeier jetzt auf DVD

oe
Stuttgart, 09/02/2006

Meine Begeisterung für die Produktion von Léo Delibes‘ „Sylvia“ an der Pariser Garnier-Opéra bei der Premiere im Sommer 1979 hielt sich in engen Grenzen – und auch die Düsseldorfer Einstudierung: na ja! Sehr viel positiver jetzt die Bilanz der DVD einer Aufführung dieser Version in der Opéra Bastille vom März 2005 (TDK, DVWW-BSLVA, 136 Minuten, inklusive einem aufschlussreichen Interview mit Brigitte Lefèvre, Chefin der Kompanie, und John Neumeier).

Im alten Haus von Garnier, wo „Sylvia“ 1876 die erste Ballettpremiere war, nahm sich Neumeiers so dezidiert moderne Interpretation eher fehl am Platze aus. Nicht so jetzt auf der Bühne der Opéra Bastille, wo sie sich mit ihrem wohltuend sparsamen Dekor von Yannis Kokkos und seinen leuchtend klaren Farben exakt in das architektonische Ambiente des Hauses einfügt. Und dazu passen auch die Kostümentwürfe von Kokkos, die Diana und ihrem Gefolge das Aussehen einer Olympia-Equipe der Frauen leiht und die Männer, sowohl als Götter wie auch der „Schäfer“ Aminta, durchaus Burschen vom Sportplatz nebenan sein könnten. Der zweite Akt suggeriert dann eine hochelegante Party, auf der es ziemlich freizügig zugeht.

So hat Neumeier Tassos Hirten- und Schäfer-Idylle von aller mythologischen Umstandskrämerei befreit, die dieses Ballett schon für die Zeitgenossen am Ende des 19. Jahrhunderts so fragwürdig machte (und womit Diaghilew in seiner geplanten Einstudierung am St. Petersburger Mariinsky-Theater gründlich aufräumen wollte – ein Vorhaben, das bekanntlich vereitelt wurde und so letztlich zur Gründung seiner Ballets Russes führte), und über das sich schon Hanslick in seiner Kritik weidlich lustig gemacht hatte: „Du guter Gott, was gehen uns die Gottheiten an? Die zärtlichen Liebespirouetten von Nymphen und Schäferinnen, die begeisterten Bocksprünge unsauberer Faune, diese immer sprungbereite Allmacht Dianas oder Amors – für wen haben sie noch ein dramatisches Interesse?“

Andererseits pries er die Musik von Delibes in den höchsten Tönen als „das Vorzüglichste, was in dieser Gattung geschrieben ist.“ Und sie erstrahlt in dieser Einspielung (ergänzt um ein paar Piecen aus Delibes‘ Ballett „La Source“) mit dem Orchester der Opéra unter der Leitung Paul Connelly in den glänzendsten, verführerischsten Tönen. Dazu hat Neumeier eine bittersüße, sehr moderne Liebesgeschichte inszeniert, die sehr wohl unter den Athleten eines olympischen Dorfes spielen könnte. Unterschiedlich choreografisch inspiriert – mit sichtlichen Schwierigkeiten, wenn die Musik sich an Vorbilder des 19. Jahrhunderts hält und sich wagnerisch echauffiert –, aber doch überwiegend von einer luziden modernen Klassizität, Klarheit der Formen und Strukturen, aufgeladen mit einer vibrierenden Sinnlichkeit. Alles in allem also nicht so englisch-viktorianisch distinguiert wie bei Ashton und auch nicht so k.u.k. operettenselig wie bei Seregi, dafür mit dem erotisierenden Hauch eines französischen Parfüms der Luxusklasse, sagen wir Chanel.

Wie wird das aber auch getanzt! Von dem inzwischen zehn Jahre reifer und weiser gewordenen Manuel Legris als Aminta, mit der ganz erstaunlich in der Rolle wachsenden Aurélie Dupont als Sylvia, mit dem unwiderstehlich verführerischen Nicolas Le Riche als Amor/Orion, mit Marie-Agnes Gillot als penthesileahaft-virile Diana und dem träumerisch-verschmusten, knabenhaften José Martinez als Endymion. Dazu das zum Anbeißen knusprige Corps, sowohl die charmesprühenden Damen als auch die sexy ihre Muskeln spielenlassenden Burschen. Ein hinreißendes Erotikon, vom erfahrenen Thomas Grimm ins Bild gesetzt, von Lefèvre und Neumeier pointiert kommentiert und obendrein mit einem zwar kleinen aber informativen Textheft versehen. Mindestens drei Michelin-Sterne!

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