Bittersüßer Abschied
Ben Van Cauwenbergh verlässt nach 16jähriger Intendanz das Aalto Ballett Essen
Unersättlich scheint der Stoffhunger Jochen Ulrichs zu sein, der sich in einem Drittel Jahrhundert quer durch die Weltliteratur choreografiert hat. Unermüdlich auch seine Umtriebigkeit: Köln, Berlin, Wien, das Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und Holland, derzeit noch Chef in Innsbruck, von der nächsten Spielzeit an dann in Linz, sicher bald auch in Chemnitz ... Nun schon zum zweiten Mal in Essen, bei Martin Puttke, der seinem Publikum ein Programm der unterschiedlichsten choreografischen Handschriften bietet – zuletzt Spoerli, Spuck, Eifman, Thoss, Bombana – demnächst wieder Thoss (mit Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta).
Jetzt also abermals Ulrich – nach seinem „Diaghilew“ – mit der Uraufführung der „Roten Schuhe“ – frei nach Hans Christian Andersen und dem berühmten Film von Powell und Pressburger, ein zweieinhalbstündiger properer Abendfüller, von Ulrich zu einem Künstlerdrama erweitert über die Unvereinbarkeit von theatralischem Karriereehrgeiz und privatem Glück. Die Essener scheinen zufrieden zu sein: Sie füllten in dieser dritten Vorstellung das Haus bis auf den letzten Platz. (Das ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr an unseren Bühnen – am Abend zuvor in Stuttgart, in der zweiten Vorstellung der Auftragsoper „Pastorale“ ein noch nicht einmal zu einem Viertel volles Haus). Kein Wunder, denn der Aalto-Bau ist eins der schönsten Theater weit und breit, und sie wissen, dass sie hier handfeste und solide Kost geboten bekommen – nicht nur in der weit über Essen hinaus renommierten Oper, sondern eben auch im Ballett mit seinen handverlesenen Solisten und seinem ansehnlichen Corps, bestens trainiert von Raimondo Rebeck.
Ein ungemein ehrgeiziges Projekt – weit über Andersens Märchenvorlage hinausreichend. Dazu hat sich Ulrich ein anspruchsvolles Musikprogramm zusammengestellt – von Dmitri Schostakowitsch die beiden Klavierkonzerte (auch nach Cranko, MacMillan, Bigonzetti und Neumeier immer wieder gern gehört) und Ausschnitte aus seinen spritzigen Ballettsuiten sowie von dem mit ihm (und Peter Pears) befreundeten Benjamin Britten die Variationen über ein Thema von Frank Bridge und – sehr gewagt, aber durchaus stimmig – die Passacaglia und die Interludes aus „Peter Grimes“. Alles picobello von den Bochumer Symphonikern unter der Leitung von Pietro Rizzo gespielt, ein musikalisches Gourmet-Menu! Und auch die Ausstattung konnte sich sehen lassen: ein für mich neuer Mann, Stephan Mannteufel, mit zwei riesigen beweglichen Spiegelwänden, die pointiert in die Choreografie einbezogen sind und so nahtlose Übergänge zwischen Realität und Fantasy ermöglichen, von Jürgen Nase mit viel Farbgeschmack beleuchtet – eine Augenweide!
Die Choreografie von Ulrich: ein bunter Mix aus Neoklassischem (ohne Spitzenschuhe), Zeitgenössischem, auch Revuehaftem und Zirkuselementen, exakte Personencharakteristiken, Expressives für den exzellenten Schuhmacher (und leider auch Escamillo) von Mario Perricone, kleine exquisite Gruppen und massive Ensembles (habe ich richtig gezählt – bis zu 25 Tänzer auf der Bühne?), ein reichlich outrierter Beginn im Mädchenpensionat (mit einem einzigen Jungen?), ein schier endloses „Carmen“-Ballett als Einlage (damit auch Alicia Olleta als rivalisierende Ballerina richtig was zu tun kriegt?), ein fabelhafter Pas de deux für die Protagonistin mit ihrer Manie für die roten Pumps, Ludmila Nikitenko, und ihren Liebhaber (hier ein Komponist), als der Düsseldorfs Jörg Simon auch frustriert eine blendende Figur macht (es ist dieses wunderbare, traumverlorene Andante aus dem 2. Klavierkonzert, mit dem auch Neumeier seine „Möwe“ eröffnet), und angemessen Macho-Brutalistisches für den Theaterdirektor von Marat Ourtaev. Die Solisten können sich wahrlich nicht beklagen, Ulrich hat sie höchst effektvoll bedacht – wie übrigens auch die Vertreter der Nebenrollen.
Alles in allem also ein ansehnlicher Abendfüller von Ballett (jawohl, so nennt sich diese Produktion allen Ernstes – ihr Rot nicht nur auf die ominösen Tanzschuhe bezogen, sondern auch auf das unsichtbare Tuch, das es mit seiner Deklaration als Ballett für zahlreiche ehrenwerte Kollegen darstellt). Ich hätte es um mindestens eine halbe Stunde gekürzt – aber dagegen hätten dann sicher die Tänzer protestiert, die sich mit Elan in ihre dankbaren Partien gestürzt haben.
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