Große Geburtstags-Gala

„Glen Tetley zum 80.“ beim Stuttgarter Ballett

oe
Stuttgart, 28/01/2006

Glen Tetley achtzig (am 3. Februar): da rückt unvermeidlich viel Geschichte ins Blickfeld. Gerade auch aus deutscher Perspektive. Nicht nur seine tänzerischen Anfänge als Zwanzigjähriger bei Hanya Holm, Leiterin der New Yorker Filiale der Dresdner Schule von Mary Wigman (er hatte vorher begonnen, Medizin zu studieren). Ein Spätkommer sozusagen. Was nicht zuletzt seine intellektuellen Ambitionen erklärt. So wurde sein Durchbruchswerk als Choreograf 1962 (da war er also immerhin schon sechsunddreißig) eine so aus dem üblichen Ballettrahmen fallende Komposition wie Schönbergs „Pierrot lunaire“.

Er war einer der ersten Grenzüberschreiter des Balletts: in den modernen Truppen von Holm, John Butler und Martha Graham, aber auch beim American Ballet Theatre, beim Joffrey Ballet und bei Robbins‘ Ballets USA – und, nicht zu vergessen, in Holms Broadway-Musicals à la „Kiss Me, Kate“. Als Tänzer, Choreograf und dann auch Vizedirektor (neben Hans van Manen) des Nederlands Dans Theaters wurde er durch die zahlreichen Gastspiele des NDT auch in Deutschland bekannt, lud ihn John Cranko ein, sein Erfolgsballett „Mythical Hunters“ 1972 auch in Stuttgart einzustudieren. Der Tod Crankos 1973 verhinderte dann die geplante reguläre Zusammenarbeit. Stattdessen wurde Tetley 1974 Crankos Stuttgarter Nachfolger – zwei Jahre heftiger Turbulenzen, die allerdings der Kompanie eine kräftige Vitalitätsspritze besonders im Hinblick auf ihre Exkursionen jenseits der Grenzen des klassisch-akademischen Tanzes verpassten.

Auch München holte sich ihn für eine aufsehenerregende, bis heute nichts an zähnefletschender Aggressivität eingebüßt habende „Sacre du printemps“-Produktion – 1976 auch von Stuttgart übernommen. Mit dem englischen Ballett Rambert kreierte er in Schwetzingen 1979 Shakespeare-Nordheims abendfüllenden „The Tempest“ (alias „Der Sturm“). Dann holte ihn Reid Anderson für diverse Revivals nach Stuttgart – darunter auch seine Ende 1973 für die Stuttgarter Kompanie als Memorial für Cranko geschaffenen „Voluntaries“ zu Poulencs Konzert für Orgel, Streicher und Pauken.

Jetzt hat ihm also das Stuttgarter Ballett zu seinem achtzigsten Geburtstag ein reines Tetley-Programm ausgerichtet – mit drei Schlüsselwerken seiner Karriere: „Voluntaries“, „Pierrot lunaire“ und „Sacre du printemps“ – eine geballte Ladung musikalischer Eckpfeiler des 20. Jahrhunderts. Sogar live musiziert – was bei dem Anspruch dieser Partituren heutzutage ja nicht mehr selbstverständlich ist – vom Staatsorchester und dessen Solisten unter der Leitung von James Tuggle. Frisch poliert von den Ballettmeistern, ausgepichten Tetley-Spezialisten, und getanzt mit dezidiertem Premieren-Finish von den Mitgliedern der Kompanie und ihren Solisten, von denen die Mehrzahl in ihren Rollen debütierten. Man kann also resümieren, dass an diesem Abend eine neue Stuttgarter Tänzergeneration von Tetley Besitz ergriffen hat. Dementsprechend der Jubel des Publikums am Ende, mit stehenden Ovationen für unseren Freund aus Amerika, die Tänzer und Musiker und eine illustre internationale Gästeschar, herbeigeeilt aus nah und fern (doch warum nicht auch die ja ebenfalls anwesenden Birgit Keil und Vladimir Klos?).

Mit Maria Eichwald und Jason Reilly im Pas de deux und Alicia Amatriain, Friedemann Vogel und Evan McKie als Pas-de-trois-Solisten wirkten die an den Anfang gestellten „Voluntaries“ an diesem Abend wie choreografisches Brausepulver, immer neu aufgequirlt von Jörg Halubek mit seinen Orgel-Spritzern. Danach dann die kammermusikalischen Appetizer Schönbergs – mit Salome Kammer als Rezitatorin –, sozusagen als Rap-Slams avant le temps (wie wohltuend nach all diesen Quasselballetten der jüngeren Vergangenheit), mit dem geradezu Picassoschen Commedia dell‘arte-Terzett von Marijn Rademaker, Katja Wünsche und Damiano Pettenella. Und schließlich die Terroristen-Bombenzündung des „Sacre“ mit Alexander Zaitsev als Gang-Leader, Bridget Breiner und Jiri Jelinek als seinen Assistenten samt ihrer tänzerischen Kampfbrigade der 22. Welch ein Programm, welche eine Kompanie und welch ein Achtzigjähriger (minus 7 Tage) – und sie alle vereint an einem Ort, der Stuttgart heißt (Mozart soll an diesem Abend seines Geburtstags ganz neidisch aus Salzburg herübergelugt haben)!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern