Zu viel gewollt?
Der Spielfilm „Cranko“ von Joachim A. Lang
Kenneth MacMillans „Romeo und Julia“ beim Karlsruher Ballett - und ein Vergleich mit John Crankos Version
Wer John Crankos Choreografie von „Romeo und Julia“ kennt und danach die weltweit bekanntere Version von Kenneth MacMillan sieht, der meint, eine Variation derselben Fassung zu sehen. Wohl unterscheidet sich die Choreografie, wohl gibt es hier ein Solo mehr und dort ein paar Tote weniger, aber die Ähnlichkeit in Dramaturgie und Motivation der handelnden Personen ist absolut verblüffend. MacMillans Version wirkt wie eine etwas klassischere, britisch-distanzierte Zwillingsschwester von John Crankos Stuttgarter Inszenierung. Das liegt natürlich zum einen daran, dass Prokofjews Partitur Dramaturgie und Motivation des Geschehens exakt vorgibt. Beim musikalischen Ablauf gibt es denn auch bei MacMillan nur minimale Unterschiede zu Prokofjews Original – die Mandolinen-Serenade, auf die Cranko den Lilientanz der Mädchen in Julias Schlafzimmer choreografierte, wird hier im ersten Akt beim Ball von Julia gespielt und Romeo tanzt dazu, stattdessen tanzen die Mädchen in MacMillans drittem Akt zu einer bei Cranko gestrichenen Musik. Außerdem wird die Musik des Paris-Pas-de-deux aus dem ersten Akt noch einmal kurz wiederholt, als Julia zum Schein in die Hochzeit einwilligt.
Crankos (1962) wie MacMillans (1965) Versionen entstanden nur drei Jahrzehnte nach der Vollendung der Partitur im Jahr 1935, sie gehören also wie Leonid Lawrowsky mit seiner russischen Fassung 1940 und Frederick Ashton (Kopenhagen 1955) immer noch zu den „Pionieren“, zu den Entdeckern von Prokofjews Musik. Nach der Uraufführung von Ivo Psota in Brünn (1938) wurde vor allem Lawrowskys fürs Kirov entstandene Version zum wichtigen Vorbild für die westlichen „Romeo“-Fassungen; auch heute wird sie beim Mariinsky-Ballett noch getanzt. 1946 hatte Lawrowsky sie auch beim Bolschoi einstudiert, 1954 wurde sie aufwendig verfilmt und war dadurch den westlichen Choreografen bekannt.
Nach einer ersten Fassung des „Romeo“ 1958 in Venedig hatte Crankos heutige Version am 2. Dezember 1962 in Stuttgart Premiere. Kenneth MacMillan war zu dieser Zeit in Stuttgart und schuf für die gleiche Spielzeit sein „Las Hermanas“ (wofür er übrigens unbedingt mit der blutjungen Birgit Keil arbeiten wollte). Wenig mehr als zwei Jahre später, am 9. Februar 1965, hatte dann sein „Romeo“ in Covent Garden Premiere, mit Fonteyn und Nurejew in den Hauptrollen. Die beiden Stars waren ihm statt der jungen Tänzer Lynn Seymour und Christopher Gable, auf die er die Rollen eigentlich kreiert hatte, von der Leitung des Hauses aufgedrängt worden. In seiner Cranko-Biografie schreibt John Percival: „Als Kenneth MacMillan das Ballett für das Covent Garden inszenierte, stützte er sich sehr auf die Stuttgarter Aufführung – so sehr, dass John enttäuscht war, denn er hatte gehofft und erwartet, eine originellere Alternative zu seiner eigenen Behandlung des Werkes zu sehen.“
MacMillans Royal-Ballet-Version war dann aber diejenige, die sich weltweit stärker durchsetzte – sie wird zum Beispiel beim ABT, beim Ballett der Scala in Mailand und beim Birmingham Royal Ballet getanzt. Obwohl MacMillan direkt nach seiner „Romeo“-Premiere beim Royal Ballet für drei Jahre lang Ballettdirektor an der Deutschen Oper Berlin wurde, war seine Fassung nie im deutschsprachigen Raum zu sehen – Stuttgart, München und Wien tanzen die Cranko-Version, Hamburg hat Neumeier, in Berlin wurde an der Lindenoper zuletzt eine „Romeo“-Choreografie von Patrice Bart und an der Deutschen Oper die Youri-Vámos-Produktion getanzt.
Und so kann Birgit Keils junges Karlsruher Ballett nun mit der deutschen Erstaufführung einer der bekanntesten „Romeo und Julia“-Choreografien der Welt auftrumpfen, nur eine knappe Stunde entfernt von ihrer Stuttgarter Inspiration und Konkurrenz – was für ein spannender Vergleich! Bei der Ausstattung steht außer Frage, dass Jürgen Roses einfache, charakteristische Kostüme und seine offenen Plätze stilvoller aussehen und besser zum Stoff passen. Der junge Paul Andrews behält in seiner 1992 für MacMillans Neuinszenierung beim Birmingham Royal Ballet entworfenen Ausstattung die zweistöckigen Säulengänge der Urausstattung von Nicholas Georgiadis bei, bei ihm wirken die Kostüme zu prachtvoll, ausladend und bunt – wie man sich halt gemeinhin Ballettplüsch vorstellt. Wie immer in Karlsruhe ist der Abend bestens einstudiert und geprobt (von der Londoner MacMillan-Expertin Julie Lincoln), und wie immer muss man sich an die sehr jungen, oft noch kindlichen Gesichter der Karlsruher Kompanie erst wieder gewöhnen, zumal auch hier viele Studenten der Mannheimer Ballettakademie mittanzen. Eigentlich ist „Romeo und Julia“ ja durchaus ein Ballett für junge Tänzer, nur eben nicht in dieser aufgeplusterten Ausstattung, dieser auf englische Nobilität bedachten Choreografie, deshalb die Diskrepanz.
Gegenüber MacMillans Original wurde das Corps de ballet in Karlsruhe von 16 auf 12 Paare reduziert, und Benvolio darf im zweiten Akt zusätzlich das Solo des Faschingsprinzen tanzen, ansonsten sind keine Reduktionen zu verzeichnen. Karlsruhe bietet zwei technisch mühelose, glaubwürdige Protagonisten auf: Als Julia reagiert Anais Chalendard ein wenig zurückhaltend auf das neue Gefühl des Verliebtseins und taut erst in der Balkonszene richtig auf. Insgesamt wirkt sie ernst, eher fraulich als mädchenhaft, aber das liegt auch an MacMillans wenig bezaubernder Auslegung der Rolle – das Spiel mit der Puppe bei Julias erstem Auftritt zum Beispiel wirkt zu aufgesetzt, als dass man es einer erwachsenen Ballerina glauben könnte, und anstatt tanzend ihre Jugend zu zeigen spielt Julia im ersten Akt sitzend Mandoline, ganz die höhere Tochter.
Flavio Salamanka gelingt das große Kunststück, MacMillans technisch virtuoses und doch so langweiliges Romeo-Solo im Balkon-Pas-de-deux mit Emotion und glühender Liebe zu füllen. Aber auch ihn entrückt der Choreograf zuweilen in eine ballettöse Distanz und raubt ihm die Spontaneität – obwohl Romeo zum Beispiel im zweiten Akt den heiß ersehnten Brief in der Hand der Amme sieht, hat er hier noch Zeit für ein zierliches Tänzchen mit den Freunden. Diego de Paula ist ein junger, frischer und sehr virtuoser Benvolio, während Terence Kohler als Mercutio zwar flinke Beine hat, es ihm aber noch etwas an dramatischem Format für die Rolle fehlt. Als Tybalt ist Felipe Rocha gut besetzt, nur lässt seine überragende Körpergröße Romeo ständig wie den sicheren Verlierer aussehen.
Florentina Cristali muss die hochdramatische Klage der Lady Capulet durchleiden, die in MacMillans Version zu lang und schrecklich pathetisch geraten ist. Rein tänzerisch hat vor allem Romeo in Kenneth MacMillans Version mehr zu tun als bei Cranko (ein kurzes Solo auf dem Ball im ersten Akt und ein langes Solo im zweiten Akt), dafür sind seine Hebungen leichter. Choreografisch erinnern die großen, weiten Linien, der gefühlvolle Schwung von Crankos Pas de deux stärker an die romantische Version Lawrowskys. MacMillan choreografiert elaborierter und ziselierter, er ist ganz im englischen Stil auf feine Fußarbeit bedacht. In der Anordnung der Schritte erinnert kaum etwas bei ihm an Cranko, aber MacMillan übernimmt oft völlig identisch, welche Regungen und Motivationen Cranko aus der Musik herausgehört hat. Gerade in der Balkonszene ähnelt die englische Version der Stuttgarter manchmal auf den Takt genau – wenn Crankos Romeo den Kopf an Julias Brust legt, presst sich MacMillans Romeo kniend an sie, wenn Crankos Julia den Arm von Glück erfüllt nach oben reckt, da streckt MacMillans beide Arme in einer ähnlichen Geste nach hinten. Im direkten Vergleich hat John Cranko die genialere Adaption geschaffen, weil er Menschen treffender charakterisieren kann – er sieht den berühmten Stoff nicht als Anlass für virtuose Soli oder fein gesetzte Schritte, sondern er spricht mit Bewegungen aus, was Shakespeare mit Worten sagt. Seine „star-crossed lovers“ sind durch die vielen kleinen Momente so echt und lebendig, die er Prokofjews Musik abgelauscht hat: der magische, vorsichtige Augenblick der ersten Berührung auf dem Ball etwa (MacMillans Romeo greift wie der von Lawrowsky seiner Julia völlig selbstverständlich von hinten um den Leib, um sie hochzuheben, und küsst sie später wie ein geübter Verführer auf den Hals).
Der „umwerfende“ erste Kuss im Balkon-Pas-de-deux, nach dem Julia taumelt und Romeo sie auffangen muss. Dass der sterbende Romeo Julia umklammert und sie in seinen Armen erwacht, um dann erst zu merken, dass er tot ist (bei MacMillan findet sie ihn auf dem Boden). Natürlich hatte Cranko den Vorteil, seine Choreografie für das vergleichsweise kleine Stuttgarter Opernhaus kreiert zu haben, wo solche Details gut zu sehen sind; MacMillan musste das weite Auditorium des Royal Opera House bedienen und sozusagen in Cinemascope choreografieren. Dennoch sieht man im direkten Vergleich einfach, was dem englischen Ballett wichtig ist: schöner Tanz, und was John Cranko anders machen wollte: getanztes Drama.
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