Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
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Was wäre das Ballett ohne Shakespeare? „Romeo und Julia“, „Zähmung“, „Ein Sommernachtstraum“, „Othello“, alles Eckpfeiler des großen Tanzrepertoires. An Shakespeares letztes Bühnenwerk, den „Sturm“ (1610/11), ein kompliziert tiefsinniges Märchendrama, haben sich nur wenige Choreographen gewagt. Und die Ergebnisse verschwanden bald wieder in der Versenkung. Der gebürtige Wiener Jörg Mannes, seit 2006/07 Tanzchef am Staatstheater Hannover, ließ sich nicht abschrecken. In den Kanon der gewichtigen Shakespeare-Ballette wird wohl auch seine Version fürs Bayerische Staatsballett nicht eingehen. Trotzdem: klug und höchst musikalisch durchdacht ist dieser „Sturm“, und auch mit letzter elegischer Eleganz getanzt.
Das Premierenpublikum im Münchner Nationaltheater war hörbar angetan. Mit diesem „Sturm“ verabschiedet sich Shakespeare 1611 vom Theater, und so steckt in seiner Hauptfigur auch ein Stück seiner eigenen Altersweisheit: Prospero erkennt, dass nur Vergebung die Gewalt brechen, nur Machtverzicht letztlich Zufriedenheit schenken kann. Eine schöne Utopie, die, so dachte Mannes nicht falsch, einen offenen Denk-Raum braucht. Mit nichts als einem halben Dutzend dreiseitiger, fahr- und drehbarer Säulen entsteht da Prosperos Inselreich. Waagerecht sind es abstrahierte Wellen, hinter denen die Schiffbrüchigen paddeln; mit Schriftzeichen bedeckt evozieren sie Prosperos Bibliothek. In ihren Spiegelseiten vervielfältigt scheinen die Luftgeister – das gesamte wurlende Ensemble – illusionistisch abzuheben (Ein kleines „aside“ zu den Kostümen: das über Rücken bis in Schenkelmitte wedelnde Tüllgebilde - so eine Art Flügel-Flosse-Schwänzchen - nimmt sich recht merkwürdig aus, vor allem bei den Luftgeistern männlichen Geschlechts).
Bei den Soli, Pas de deux und Pas de trois kann die Bühne allerdings sehr nackt wirken. Von Mannes offensichtlich genau so beabsichtigt: er will, so vermittelt es sich, einerseits erzählen, was ihm mit schlanker Zeichenhaftigkeit, manchmal nur mit einem stilisierten Bild, durchaus gelingt. Andererseits will er aber dem Tanz als eigenständigem Medium und vor allem der Musik einen größtmöglichen „Wirk“-Raum lassen. Und in gewissem Sinn ist dieser Abend ja auch ein subtil konzipiertes Konzert.
Die 4. Sinfonie von Bruckner und die 7. von Sibelius, verschränkt mit Sibelius' „Sturm“-Suite und Tschaikowskys „Sturm“-Ouvertüre, das ergibt eine in sich geschlossene Partitur, die dem Choreographen zugleich die verschiedenen Stimmungen der Geschichte zuspielt. Im Aufbrausen Bruckners werden die verräterischen ehemaligen Freunde an Land gespült, werden neue Mordkomplotte geschmiedet. Das Sturmgetöse - schade besonders für den Bruckner - hätte man sich von David Robert Coleman und dem Staatsorchester weniger krachig gewünscht.
In Bruckners Innenspannung liegt Prospero im Gewissenskampf mit sich selbst, in den lyrischen Passagen entdecken und verlieben sich Miranda und Ferdinand. Zu den leichten, hüpfig-tänzerischen Miniaturen der Sibelius-Suite sind Mannes hinreißende Sequenzen für das komische Duo Trinculo und Stefano eingefallen. Und Sibelius' 7. Sinfonie ist ihm in ihrer Besänftigung ein Spiegel für Prosperos große Versöhnungsszene.
Alen Bottaini gestaltet diesen Inselherrscher in seinem Wandel vom Vergeltungssüchtigen zum Vergebenden mit starkem darstellerischem (bei oft sehr düsterem Licht bitte Opernglas zücken!) und körperlichem Ausdruck. Auch alle anderen, von Wlademir Faccionis Caliban bis zu Norbert Grafs Gonzalo, bewegen sich, als ob sie mit Mannes groß geworden wären. Phantastisch. Denn sein neoklassischer Stil, entfernt noch das Vorbild William Forsythe verratend, durchwirkt mit kleinen verfremdeten Alltagsbewegungen, dabei zwischen Sprung, Hebung und Bodenfigur ständig im Fluss, ist wirklich nicht leicht zu tanzen. Also nur Lob? Nicht nur. Lucia Lacarra, wenn geführt, eine sehr wandlungsfähige Künstlerin, und rein tänzerisch auch hier wieder großartig, wirkt als Ariel wie in eine blutleere Geistwesen-Schablone gezwängt. In seiner absoluten Konzentration auf die Musik, auf das Ideen-Drama, auf die Melancholie des Abschieds ist Jörg Mannes Sinnlichkeit abhanden gekommen. Ohne die Anmut, die jugendliche Liebes-Frische von Séverine Ferrolier und Lukás Slavický (Miranda und Ferdinand) wäre es einem an spröder Geistigkeit fast zu viel. Dennoch: erzählende Abendfüller sind das Schwierigste. Und dieser „Sturm“ ist für den Choreographen wie für das Ensemble mehr als ein Achtungserfolg.
Vorstellungen 20., 23. 12. 19 Uhr 30; 25. 1., 20 Uhr
Die Handlung: Prospero, der Herzog von Mailand, ganz den Künsten und Wissenschaften verschrieben, wird, zusammen mit Töchterchen Miranda, von seinem machtgierigen Bruder Antonio in einem Boot der wilden See überlassen. Auf einer Insel gerettet, bildet sich Propero zum Magier heran. Als nach zwölf Jahren ein Schiff mit Antonio und dem verbündeten Alonso, König von Neapel, sich in Inselnähe befindet, entfacht Prospero mit Hilfe seines Luftgeistes Ariel stürmische Winde. Jetzt könnte er Vergeltung üben. Aber altersweise bekehrt er sich zu Versöhnung und Entsagung aller Zauberkraft. Und Miranda und Alonso Sohn Ferdinand dürfen sich lieben.
Besetzung Choreographie: Jörg Mannes; Bühne: Tina Kitzing; Kostüme: Lenka Radetzky-Kupfer; Licht: Christian Kass; musikalische Leitung: David Robert Coleman; Alen Bottaini (Prospero), Séverine Ferrolier (Miranda), Lukás Slavický (Ferdinand), Lucia Lacarra (Ariel), Wlademir Faccioni (Caliban) Tigran Mikayelyan (Antonio, Prosperos Bruder), Marlon Dino (Alonso, König von Neapel), Nour El Desouki (Sebastian, Bruder Alsonso), Norbert Graf (Gonzalo, ehrlicher Ratgeber Alonsos), Olivier Vercoutère (Trinculo), Filip Janda (Stefano)
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