Plädoyer gegen Rassismus im Tanz
Neu erschienen: die Biografie des kubanischen Tänzers Osiel Gouneo
Lucia Lacarra als Medora, mit Tigran Mikayelyan als Konrad, in der neuen „Le Corsaire“-Produktion
Da startet die neue Münchner Operndirektion mit dem Paukenschlag der publizistischen Ankündigung: „Wir möchten mit der Betonung des slawischen Repertoires einen neuen Schwerpunkt setzen und beginnen gleich mit einem monumentalen Opus ... Modest Mussorgskys ‚Chowanschtschina‘. – Recht getan! Und die Neuproduktion erweist sich tatsächlich als eine Tour de force. Einschließlich der „Persischen Tänze“, die nicht etwa, wie üblich, als eine sich steigernde Orgie um den Titelhelden getanzt werden. Es gibt denn auch gar keinen Choreografen. Trotzdem werden sie in voller Länge musiziert (und wie: unter der Leitung von Kent Nagano, dem neuen Generalmusikdirektor des Hauses, erklingen sie in ihrer ganzen narkotischen, exotischen Süße).
Regisseur Dmitrij Tcherniakov lässt dazu den Frauenchor in einem eskalierenden Rondo um den von seinem Sessel aus die erotische Stimmung anheizenden und aufgeilenden Iwan Chowansky kreisen, zuletzt auf Knien rutschend, wie räudige Hunde. Das ist völlig ungewohnt, aber kolossal beeindruckend – wie diese ganze Inszenierung, die in einem Beton-Labyrinth der russischen Seele angesiedelt scheint. Eine Produktion wie ein Hammer (wie die Musik Mussorgskys)! Nur: Ist die publizistische Abteilung der Bayerischen Staatsoper auf dem einen Auge blind? Hat sie übersehen, dass das Bayerische Staatsballett seit den Zeiten, da es noch das Ballett der Bayerischen Staatsoper war, also seit über zwei Jahrzehnten, den von der Oper jetzt entdeckten „neuen Schwerpunkt“ pflegt wie keine andere deutsche Opern-Ballettkompanie? Wo gibt es denn sonst noch in unseren Landen ein Haus, das außer „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“ auch „Don Quixote“, „Raymonda“ und „La Bayadère“ im Repertoire hat (und dort nicht vor sich hin stauben lässt, sondern immer wieder neu aufpoliert auf den aktuellen Spielplan setzt) – und dazu seit neuestem auch noch den sonst nirgends anzutreffenden „Le Corsaire“?
Also in dieser Beziehung ist das Bayerische Staatsballett der Bayerischen Staatsoper um Jahre vorausgeprescht. Denn um gleichzuziehen mit dem Angebot des Bayerischen Staatsballetts müsste die Bayerische Staatsoper vergleichsweise „Ein Leben für den Zaren“, „Ruslan und Ludmilla“, „Fürst Igor“, „Boris Godunow“, „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ im Repertoire haben. Das wird dauern! Also Ehre, wem Ehre gebührt! Und nun erneut „Le Corsaire“ mit Lucia Lacarra als Medora, die zwar für die Premiere vorgesehen war, sich aber verletzt hatte und durch Lisa-Maree Cullum ersetzt worden war, und mit Tigran Mikayalyan als Konrad, inzwischen zum Korsaren-Häuptling befördert. Da hatte man also quasi eine nachgeholte glamouröse Piratenhochzeit à la Angelina Jolie und Johnny Depp erhofft. Daraus wurde indessen ganz und gar nichts. Leider!
Zäh und etepetete lief die Vorstellung an, zündete ein paar elektrisierende Funken erst bei den Soli von Cyril Pierre als Birbanto, ein toller Zuhälter-Typ, und dem ungewöhnlich groß gewachsenen, attraktiven Ali von Marlon Dino. Auch Ivy Amista, neulich doch ein so vorzüglicher Schatten in der „Bayadère“, vermochte als Gulnara weder die Sinne des Pascha (Norbert Graf) noch die unseren zu entflammen – eine Pragmatikerin, der es am Ende nicht schwerfällt, sich in ihr Schicksal als Oberin der Haremsdamen zu fügen. Und Lacarra? Na ja, toll anzusehen, wie sie da Petipa in Reinkultur zelebrierte! Doch als Piratenbraut, entschlossen mit ihrem Konrad selbst einem Tsunami zu trotzen? Da hätte ich mir doch mehr Abenteuerlust in ihrem Blut erwartet. Dass sie auch über ein schelmisch-kokettes Talent verfügt, darauf mussten wir bis zu ihrem „Le petit Corsaire“-Solo im zweiten Akt warten. Kein Vergleich mit Asylmutarova in der Mariinsky-DVD-Version!
Und Mikayelyan als Konrad? Den stelle ich mir als einen Jungen aus Eriwan vor, der aus der Enge der Berge als Freibeuter auf die Meere flüchtet, doch als einen wesentlich temperamentvolleren und auch charmanteren Burschen. Zweifellos ein formidabler Techniker – aber nach seinem Ali in der Premiere hatten wir doch auf einen stürmischeren Piraten gehofft. Die Charakterentdeckungen dieser Vorstellungen waren eindeutig Cyril Pierre als Birbanto und Marlon Dino als Ali. Ansonsten viel braves Getanze, aber wenig theatralisch-dramatische Schubkraft. Habe ich den schieren Theaterwert dieser Produktion bei der Premiere aus lauter Entdeckerfreude an einem mir unbekannten Werk überschätzt? Nach dieser Vorstellung bin ich eher geneigt, den neuen Münchner „Le Corsaire“ an die Seite des Berliner „Feensee“ oder der Pariser „Pharaonentochter“ zu rücken. Als Klassikerproduktion ist der neue Zürcher „Don Quixote“ an theatralischer Verve um Klassen überlegen. Es bleibt ein etwas schaler Nachgeschmack.
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