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München rehabilitiert mit „Le Corsaire“ einen Ballettklassiker der 1A-Klasse
Welch ein Wochenende! Ein nagelneuer Tschaikowsky-Abendfüller bei James Sutherland in Pforzheim. Eine Grigorowitsch-Gala zu dessen 80. Geburtstag in London. In Stuttgart die Wiederaufnahme von Bournonvilles „La Sylphide“ mit der unverwüstlichen Marcia Haydée anlässlich deren kurz bevorstehendem 70. Geburtstag. In Berlin die Malakhov & Friends Gala. In Zürich eine Benefiz-Gala „Zehn Jahre Heinz Spoerli und das Zürcher Ballett“. Und in München die Rehabilitation von Petipas „Le Corsaire“ ... Leben wir in einem Goldenen Zeitalter des Balletts? Wäre ich Beckenbauer, würde ich in meinem Privat-Jet hin und her hoppen (das wäre dann die oe-Variante des Hip-Hop). Fragt sich nur, ob ich bei den chaotischen Wetterverhältnissen auch überall hätte landen können.
Ist ja ganz schön, was die Dame Natalia Makarova und die Herren Rudolf Nurejew, Pierre Lacotte, Patrice Bart und Vladimir Malakhov an Ballettklassikern des 19. Jahrhunderts durch ihre Restaurationsbemühungen dem Repertoire zurückgewonnen haben. Vor allem sind wir natürlich dankbar für die diversen Versuche mit „La Bayadère“. Doch der neue Münchner „Le Corsaire“ übertrifft alle diese Anstrengungen an künstlerischer Qualität. Glückwunsch an Ivan Liška als Initiator und Produzent dieser Initiative, an sein Mitarbeiterteam und an das Bayerische Staatsballett. Sie haben einen Petipa fürs Repertoire gewonnen, der, und davon bin ich überzeugt, besser ist als der „Corsaire“, den Petipa selbst in seiner St. Petersburger Endversion zu sehen bekommen hat. Der Münchner „Corsaire“ ist ein Joint Venture: Liška als Produzent, Inszenator und Choreograf der Lücken in der traditionellen Überlieferung der Petipa zugeschriebenen Teile, Doug Fullington als Entschlüsseler der Stepanov-Notationen in der Theatersammlung der amerikanischen Harvard Universität, Maria Babanina, die für die musikalische Einrichtung und Dramaturgie zuständig war und Roger Kirk als Bühnenbildner und Kostüm-Designer – und vergessen wir nicht Wolfgang Oberender, Stellvertreter des Münchner Ballettdirektors, der seit 1988, als er das erste Mal „Le Corsaire“ bei einem Münchner Kirow-Gastspiel auf der Bühne sah, davon träumte, einmal eine eigene Produktion dieses schwer blessierten Klassikers zu betreuen.
Die Geschichte dieses Münchner „Corsaire“ ist so komplex, dass ihre Darstellung nach einem eigenen Buch verlangte – nach Art des Berliner Malakhov-„Dornröschens“, aber auf Grund der tiefer gehenden Münchner Recherchen wesentlich aufschlussreicher als die Berliner rosenduftgeschwängerte Publikation. Ich kann hier nur stichwortartig notieren, warum ich sie für ein Ereignis der Sonderkasse halte und behalte mir vor, bei späterer Gelegenheit erneut darauf zu sprechen zu kommen.
Für ausnehmend geglückt halte ich die musikalische Einrichtung von Maria Babanina, die das Kunststück zustande gebracht hat, das Patchwork der überlieferten Partitur mit den Beiträgen von Adam, Delibes, Pugni, Drigo und Prinz von Oldenburg so zu arrangieren, dass sie wie aus einem Guss erscheint, ohne die gewohnten enervierenden Qualitätsschwankungen. Sie hat mit diesem Arrangement dem „Giselle“-Komponisten einen Ehrendienst erwiesen, so dass dieser neue „Corsaire“ sich auf gleichem musikalischen Niveau befindet – wenn schon nicht wie „Schwanensee“, „Dornröschen“, „Nussknacker“ und „Raymonda“, so doch wie „Giselle“, „Bayadère“ und „Coppélia“. Und wie sie vom Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Myron Romanul realisiert wurde, kribbelte es einem fortwährend in den Füßen.
Und das Gleiche ist Liška mit der Einbindung der choreografischen Piecen von Petipa, Tschabukiani und womöglich noch von Vernoy de Saint-Georges und Joseph Mazilier nebst anderer Anonymi in ein großes Ganzes gelungen, so nahtlos, dass man überhaupt nicht registriert, welch ein Ausmaß an stilistischer Mimikry dazu erforderlich war. Seiner Inszenierung bei aller historischen Gewissenhaftigkeit auch noch einen Anflug von Ironie zu verleihen, macht diese Produktion noch umso liebenswerter (ich ziehe sie ganz entschieden der sogenannten originalen St. Petersburger „Dornröschen“-Produktion in ihrer Rekonstruktion von 1999 vor).
Und das eben ist das große Verdienst des Münchner „Le Corsaire“, dass hier dem Repertoire ein Ballettklassiker zurückgewonnen ist, der durch seinen Charme, seine Leichtigkeit, seine Fabulierlust und seine erzählerische Genauigkeit und Anschaulichkeit (auch in den sehr zurückgenommenen, aber immer konkret handlungsbezogenen Pantomimen) besticht. Auch durch sein orientalisches Kolorit, das durch die Ausstattung von Roger Kirk mit den vedutenhaften, wie aus alten Alben Gestalt annehmenden Räumen und Landschaften einen ganz eigenen Zauber entfaltet. Die künstlerischen Meriten dieses neuen „Corsaire“ übertreffen die von mir durchaus geschätzten Plaisanterien des überlieferten „Don Quixote“ bei weitem. Die Münchner Aufführung kann sich auch tänzerisch durchaus sehen lassen – sie bietet eine Unzahl an Rollen und Soli (nicht nur in dem ganz und gar zauberhaften „Jardin animé“, der es an virtuoser Profiliertheit ohne weiteres mit den Feen-Variationen in „Dornröschen“ aufnehmen kann), die das Bayerische Staatsballett durchweg in Topform präsentieren. Und das Schönste ist, dass alle mit so sichtlicher Lust bei der guten Sache sind, inklusive des Kinderballetts.
Und wenn die Münchner auch keinen Johnny Depp als Superpiraten haben, so beeindruckt Lukas Slavicky als Konrad nicht nur als ein Multitouren-Talent und mit seinen weitbogigen Sprüngen, ist Tigran Makayelyan ein Ali, dessen Sprünge ihn demnächst wohl auf die Höhen von Eriwan katapultieren werden, gebärden sich Cyril Pierre, Vincent Loermans und Peter Jolesch als echte orientalische Macho-Paschas und Alen Bottaini als angemessen schurkisch-durchtriebener Birbanto. Welch eine attraktive Burschen-Equipe! Es ist dies ja ein Ballett, in dem die Männer das Sagen haben – als wollten sie Rache für „Giselle“, „Schwanensee“ und „La Bayadère“ nehmen. Und die Bayern tun das mit Gusto. Das heißt aber nicht, dass nicht auch die Frauen zum Zuge kommen – und Lisa-Maree Cullum als Medora und Natalia Kalinitchenko als Gulnara nehmen denn auch jede Gelegenheit wahr, alle ihre orientalischen Reize spielen zu lassen, wobei sich Cullum in ihrer moussierenden Flöten-Variation offenbar als eine Schwester der Singvögel-Fee in „Dornröschen“ outet.
Alles in allem also ein Super-Hit, den das Bayerische Staatsballett da gelandet hat – würde ich liebend gern von den Stuttgarter, Hamburger und Berliner Kompanien übernommen sehen. Wer sich übrigens über die Lord Byron-Bezüge dieses „Corsaire“ genauer informieren möchte, sei auf die CD verwiesen, auf der Gerd Udo Feller Ausschnitte aus Lord Byrons Verserzählung vorträgt.
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