Fast schon Utopie
„Plaza“ von Clara Sjölin mit dem Leipziger Tanztheater
Mit Erinnerungsstücken dokumentierte im Foyer des Theaterhauses am Lindenauer Markt die Ausstellung „Wege, die wir gehen“ Geschichte: Dokumente, Kostüme, Fotos, Videos. Das Leipziger Tanztheater (LTT) feierte mit einem fünftägigen Festival sein 40-jähriges Bestehen. Die Urgründe des einst der Deutschen Post assoziierten Tanzstudios gehen auf eine Initiative seines Gründers Jürgen Goewe zurück. Rasch entwickelte sich die 1967 aus 16 Mitgliedern bestehende Gruppe zu einem der führenden Tanzkollektive der DDR, preisgekrönt und glücksverwöhnt. Seit 1981 nannte sie sich, in Anlehnung an Tom Schillings Bestrebungen an der Komischen Oper Berlin, Tanztheater, machte durch immer größere Projekte auf sich aufmerksam - bis 1991 mit der Wende, dem Verlust des Sponsors und des Leitungskopfes das Aus drohte. Mit Münchhausenschem Elan zog sich die Truppe aus dem Sog des Untergangs in eine produktive Zukunft und dürfte damit nicht nur die einzige überlebende unter den prominenten Amateurtanzgruppen aus DDR-Zeiten sein, sondern auch die dienstälteste deutschlandweit.
Seit 2003 verfügt sie als gemeinnütziger Verein über eine eigene Trainings- und Probenstätte in Leipzigs Südbezirk Lößnig. Die einstige Stadtteilbibliothek enthält nun zwei Studios nebst Zubehör vom Fundus bis zum Büro. Drei Tanzpädagoginnen, zugleich Choreografinnen der jährlichen Einstudierungen, unterrichten dort um die 350 Kinder, Jugendliche und Erwachsene zwischen 4 und 30. Von Kreativem Kindertanz bis zu klassischem und zeitgenössischem Tanz reicht das Unterrichtsangebot, das sich analog zur allgemeinbildenden Schule in 12 Klassenstufen teilt. Ab 7 wechselt man, sofern das Talent reicht, aus der Purzelgruppe in die von Bettina Werner und Brit Böttge geformte Juniorcompany über, ab 18 gehört man zur eigentlichen Company. Über 800 Vorstellungen hat das LTT absolviert, an Festivals bis in Pakistan teilgenommen. Doch die Kapazität seines Domizils ist erschöpft: Die Nachfrage steigt, wir müssen Interessenten fortschicken, klagt Geschäftsführer Ronald Schubert. Der Diplomkaufmann und Ex-LTT-Tänzer hat den tragenden Verein auf eine solide finanzielle Basis gestellt. Das Budget bestreitet sich zu 13 Prozent aus Zuschüssen der Stadt plus Projektmitteln, Unterrichtsgebühren, Mitgliedsbeiträgen, Einspielgeldern, privater Unterstützung. Die Zeit für ein Zukunftsmodell ist gekommen, sagt Schubert.
Gesucht wird ein größeres Objekt in Zentrumsnähe, ausbaubar für drei Studios, Studiobühne, Verwaltung, Gastronomie. Ein Tanzhaus Leipzig soll entstehen, mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus. In Irina Pauls, auch sie eine Ehemalige, konnte ab dem 1. November eine neue LTT-Leiterin von Ruf gewonnen werden. Sie kehre nicht zurück, sondern fange neu an, betont sie. Nach Stationen als Choreografin und Ballettdirektorin an den Theatern Meiningen, Altenburg, Oldenburg, Heidelberg, Freiburg sowie internationalen Gastaufenthalten führt sie ihr Weg wieder in die Stadt, an deren Schauspielhaus sie acht Jahre lang ein sehr erfolgreiches Tanztheater leitete. Ins LTT-Konzept bringt sie die Gründung der projektbezogen arbeitenden Proficompany D.C. Dilligence als dritter Säule ein. Berufstänzer sollen so an Leipzig gebunden werden, unterrichten, choreografieren, gemeinsam mit dem LTT verstärkt in die Kommunen ausstrahlen. Wir möchten, sagt Pauls, originelle Räume bespielen, in Schulen, Problemkiezen, mit Senioren aktiv werden, Amateur- und Profiszene vernetzen, bis zur Mitwirkung unserer Kinder in Operninszenierungen, Kooperation mit dem Schauspielhaus und weiteren Institutionen.
Wie das ausschauen könnte, stellte im Überblick das Festival „Fahrgastraum“ vor. In zwei Sälen des Theaterhauses präsentierte dort das LTT seine drei Companys. Rund 100 jüngeren Junioren gaben Bötge und Werner darstellerische Aufgaben in „Das Spiel“ um ein ängstliches Außenseitermädchen nach einem Kinderbuch von Elizabeth Shaw. Choreografisch bestach besonders Werners einstündige, theaterfühlige Inszenierung „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ über Selbstfindung und mit Junioren zwischen 14 und 16.
Zwei halbstündige Tanztheaterstücke hatten Gäste für zehn Mitglieder der professionell wirkenden Hauptcompany entworfen: Der Schotte Norman Douglas philosophierte in „Rainbow Drops“ mit Bildern von demonstrativer Langsamkeit über Liebe, „Shanghai 49“ der Schweizerin Bettina Holzhausen glossierte auf groteske Weise Egoismen. In der Reihe „Stückwerk“ zeigten aus dem LTT hervorgegangene Choreografen und Gäste des Profibereichs Kurzarbeiten. Und mit dem Frauenduett „Eisschnee“ führte Irina Pauls D.C. Dilligence ein. Das Leipziger Tanztheater beweist mit seiner hervorragenden Ausbildung, wie fließend die künstlerischen Grenzen zwischen Amateuren und Profis letztlich sind. Was sie den jungen Tänzern lebenslang mitgibt, ist kaum zu überschätzen.
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