Appell für Toleranz und Verantwortung

„Pflegestufe IV“ von Irina Pauls als Tanztheater mehrerer Generationen in Leipzig

Leipzig, 25/09/2009

Kein leichtes Thema, dem sich Irina Pauls diesmal stellt, doch ein unausweichliches, denn alt wird, wer nicht früh stirbt, und mancher ein Pflegefall: Bis 2030, weiß das Programmheft, soll in Deutschland die Zahl der Pflegebedürftigen auf über drei Millionen ansteigen. Eine Herausforderung für jene, auf die die Pflege Alter und/oder Hilfloser zukommt. Dass Irina Pauls das brisante Sujet nicht in ein Betroffenheitsstück umsetzt, ist das Plus dieses Abends im Felsenkeller. Den kaum mehr genutzten Ballsaal einer früheren Brauerei haben alle Beteiligten, die fünf Profis aus Pauls’ Company D.C. Dilligence, die neun Frauen, zwei Männer aus der semiprofessionellen, ebenfalls von Pauls geleiteten Company des Leipziger Tanztheaters sowie die 20 Seniorentänzerinnen aus Böhlen, Markkleeberg und Leipzig, mit einigem Aufwand gemeinsam hergerichtet. Dreiseitig umsessen von Zuschauern, agieren sie auf dem tiefer liegenden Parkett unter filigranen Lüstern im Karree aus Scheinwerfergerüsten. Zwei variabel veränderbare Podeste aus Portabeln hat ihnen Horst Vogelgesang als schlichte Szene gebaut, die auch von Stühlen und Rollatoren strukturiert wird. Rund 100 Minuten lang spielt „Pflegestufe IV“ überhöht durch, wie die Gesellschaft mit dem Altwerden umgeht, und hütet sich vor Verdikten. Eine Bestandsaufnahme in 14 verzahnten Bildern.

„Gewicht I“, das erste Duett, zeigt zu elektronischen Plings, welche Last eine Frau zu bewältigen hat, die ihren Partner stützen, tragen, bewegen will. Immer wieder richtet sie ihn auf, unterwandert seinen wölbenden Körper, zieht ihn mit sich, immer wieder fällt er in sich zusammen, bis sie wütend, rabiat wird, ihn fortstößt. Drei Jugendliche aus der Kapuzengeneration gehen ahnungslos mit den Rollatoren, Leuchtzeichen einer noch fernen Zukunft, um; die rüstigen Seniorinnen indes leben in Frohsinn: „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen sie zu Akkordeon, tanzen strahlend mit Armen, Stampfern, Folkloreschritten, Partnerwechsel. Ihre Welt scheint intakt, auch wenn perkussiver Sound wie eine leise Drohung einbricht. Die schwebt deutlich über einer Familie, in der sich die Rollstuhlfahrerin ausgegrenzt fühlt, das Paar in seiner Liebe hindern will. Gut erfunden ist, was sich die Choreografin zu Geige und Percussion in Matthias Engelkes nuancenreicher, nie vordergründiger Auftragskomposition für das Quartett aus drei Menschen und Rollstuhl einfallen ließ. Die nachfolgende Szene „unwirklich“ in ihrem mechanisch selbstläufigen Staccatotanz und den schrillen Kostümen mag das Zerrbild einer ignoranten, egomanen Gesellschaft sein.

Ich darf nicht erkranken, meine Frau braucht meine Solidarität, sinniert eine Stimme: Nach dem siebten Pflegejahr verspüre man dennoch Todeswünsche, für sich und den anderen. Das Heim habe er sich ins Haus geholt. Wie ein Heim funktioniert, zeigt etwas überspitzt „Pflegestation“, wo arg emotionslose Weißkittel ihre Patienten unablässig rollen, schleppen, umbetten. Altersanmut verbreiten dagegen in warmem Licht die Seniorinnen mit „Wenn alle Brünnlein fließen“, auch dies wahres Leben. Drei Solisten von Dilligence hängen dann im Rollator und werden von einer Frau physiotherapiert, die sich an Flamenco verliert, ohne zu merken, dass die Alten damit maßlos überfordert sind. Als Vision befreien sie sich von ihrem Behindertsein, nutzen das Gefährt zweckentfremdet zu artistischen Kunststücken. Weder der Mutter, die von ihrer Tochter gepflegt wird, bis diese ihre Verzweiflung in einem Solo herausschleudert, noch dem Dementen, der sich schlägt, dann die Betreuerin würgend herumwirbelt, steht dieser visionäre Ausweg offen: Sie sind unveränderbare Realität, auch wenn die Senioreninnen ihre Walzerfröhlichkeit einbringen.

Am Ende des Ausflugs in die fiktive „Pflegestufe IV“, die wohl auch Hartz IV zitiert und verfremdet, zieht eine isolierte, verrockte Jugend ein Krankenbett herein, formiert sich dahinter wie zum Leichenzug. „Ich wär ja so gern noch geblieben, aber der Wagen, der rollt“, singen die Seniorinnen auf dem Umgang. Aufrütteln will dieser fast makabre Schluss eines engagierten Tanztheaters und bleibt ebenso im Gedächtnis wie die freie, bisweilen akrobatische, häufig dynamische und raumgreifende Bewegungssprache der Irina Pauls, manch eindringliches Bild und die Begeisterung, mit der das generationenübergreifende Team ihren Intentionen folgt.

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